Nur einige Beispiele für die Vielfalt der Benennungen und Wertungen von Kultur, deren Folgen bis in die Umgangssprache reichen: Dem Bildungsbürger ist Kultur mit dem Streben nach Höherem verbunden und von den praktischen Dingen des Alltags ebenso geschieden wie von der niederrangigeren Zivilisation, für Max Weber stellt Kultur einen Wertbegriff dar, ein mit Sinn und Bedeutung belegter Ausschnitt der Wirklichkeit, andere bestimmen sie als lokale Sinngemeinschaften, als zu dechiffrierendes Zeichensystem und für manche sind „Mensch“ und „Kultur“ derart aufeinander bezogen, dass letztlich „alles“ Kultur ist.
Die Kulturwissenschaften waren – und sind – auf der Suche nach einer präzisen Benennung ihres Gegenstandes. Auch das neue dreibändige Handbuch beginnt und endet gewissermaßen mit der Frage, ob die Kulturwissenschaften denn schon einen deutlichen Begriff davon entwickelt hätten, wodurch Kultur ihren Namen eigentlich verdiene. Die Frage bleibt unbeantwortet und ist vielleicht auch nach Lektüre des Handbuchs nicht von der zentralen Bedeutung, die ihr manche zuschreiben. Das Handbuch entscheidet sich für zwei Strategien zur Fixierung seines Gegenstandes: die eine ist die Absage an eine einheitliche Kulturwissenschaft oder an eine kulturwissenschaftliche „Leitwissenschaft“ und die Entscheidung dafür, kulturwissenschaftliche Paradigmen sozusagen über die etablierten Disziplinen zu legen. Trotz des unleugbaren Einflusses von Mitgliedern des Kulturwissenschaftlichen Instituts in Essen dokumentiert das Handbuch die Breite einer zwar explizit kulturwissenschaftlich orientierten Forschung im deutschen Sprachraum, die aber konventionell betitelten Disziplinen zuordenbar sind – der Anthropologie, der Ägyptologie, der Ethnologie, der Filmwissenschaft, der Geschichtswissenschaft, der Judaistik, den Kommunikationswissenschaften, der Kunstgeschichte, der Literaturwissenschaft, der Pädagogik, der Philosophie, der Politologie, der Soziologie, der Theaterwissenschaft und der Theologie.
Die zweite Strategie des Handbuchs ist die Konzeption von den Kulturwissenschaften als einer permanent selbstreflexiven intellektuellen Tätigkeit. Was man journalistisch als Krise oder Identitätsproblem der Kulturwissenschaften deuten könnte, wird hier gerade als ihr Thema verstanden: die Kulturwissenschaften verarbeiten im Grunde den intellektuellen Erfahrungsbogen – um nur einige Beispiele zu nennen – von der Antike über Renaissance, Aufklärung, Marxismus, Psychoanalyse und (Neo-)Strukturalismus unter den Bedingungen von Modernisierung, Weltkriegen, Holocaust und der kulturellen Globalisierung und dem mit ihr verbundenen Bewusstsein einer enormen kulturellen Diversität und einer allmählichen Annäherung an die Verarbeitungsstrategien, die diese auch und gerade in der Wissenschaft ausgelöst hat. Wenn also beispielsweise ein soziales Milieu oder eine ethnische Gruppe die eigene Kultur für überlegen hält, ihr den Charakter eines Maßstabes zuschreibt und Artikulationen anderer Gruppierungen den Kulturcharakter abspricht, dann ist das keineswegs ein Hinweis auf die Unbestimmtheit des Begriffes, sondern ein kulturwissenschaftliches Basisproblem, auf das es durchaus konkurrierende Antworten gibt.
Das Werk ist nicht als Nachschlagewerk konzipiert und wer schnelle Antworten sucht, wird es enttäuscht zur Seite legen – dem inflationär gebrauchten Begriff „Identität“ etwa wird viel Aufmerksamkeit gewidmet und letztlich seine Vieldeutigkeit gelassen. Es enthält auch keinen „gesicherten“ Wissensstand, keine „Vorschriften“ für das wissenschaftliche Arbeiten, sondern gelegentlich äußerst innovative Vorschläge, deren VerfasserInnen ohne schulgebundene Rivalität wissen, dass sie mit den anderen Beiträgen nicht kohärent argumentieren. Die Herausgeber sind nicht einer Richtung oder einem Ansatz verpflichtet, sondern haben sich entschlossen, die kulturwissenschaftliche Denkweise in ihrer ganzen Bandbreite zu präsentieren. Der erste Band entwickelt in der überraschenden Gliederung von Erfahrung / Sprache / Handlung / Geltung / Identität und Geschichte einen kategorialen Rahmen des kulturwissenschaftlichen Herangehens. Wer sich auf eine sorgfältige Lektüre einlässt, wird sich bald in einer intellektuellen Kampfzone finden und den Widerstand älterer akademischer Generationen gegen das „unexakte“ Element der kulturwissenschaftlichen Denkweise nachvollziehen können. Die Rekonstruktion der grundlegenden Kategorien wird auf einem hohen wissenschaftlichen Niveau durchgeführt und ist dennoch äußerst widersprüchlich. Dass die Kulturwissenschaften in einem praktischen Verhältnis zu den vielfältigen Formen kulturellen Lebens stehen, ist nur einer der zahlreichen Gründe, die der Pluralität des Herangehens einen zwingenden Charakter geben. Menschsein heißt, unter den Bedingungen von „Kultur“ zu leben, was gleichzeitig bedeutet, dass Kulturkritik und Vernunftkritik mittlerweile ein untrennbares Amalgam bilden, das sich der Forderung nach einem widerspruchsfreien Paradigma verweigert.
Das gilt auch für den zweiten Band, der Paradigmen und Tendenzen vorstellt. Die Herausgeber gehen davon aus, dass gerade heute die Diversität der Kulturen einen Methodenpluralismus zwingend machen, was aber keineswegs bedeutet, dass hier für ein „anything goes“ plädiert wird. Wenn man die Frage stellt, worin – jenseits der Vorstellung einer Denkweise – der Nutzen des Bandes für den wissenschaftlich arbeitenden Benutzer liegt, dann sieht eine mögliche Antwort so aus: nicht nur im österreichischen kulturwissenschaftlichen Feld herrscht derzeit ein eklektischer Wildwuchs. Der Band kann ForscherInnen helfen, sich sozusagen selbst zu suchen, die eigene Denkweise zu fixieren und sie einerseits qualifiziert auszubauen und gleichzeitig Gegenargumente kritisch zur Kenntnis zu nehmen.
Der dritte Band enthält exemplarische Fallstudien, an denen allerdings die Dominanz der „großen Themen“ auffällt: das Vergessen, das Andere, die Männlichkeit, der Nationalismus, die soziale Gerechtigkeit und die Globalisierung. Jene Themenbereiche, die etwa in den USA am Anfang der Entwicklung der kulturwissenschaftlichen Forschung standen – Alltags / Massen / und Populärkultur mit all ihren Ausfächerungen in Arbeit, Freizeit und Konsum – spielen enttäuschender Weise nur eine marginale Rolle.