Bis dann 1979 aus dem Nachlaß des sowjetischen Literaturwissenschaftlers und Kulturtheoretikers ein kurzer Essay über den Bildungsroman herausgegeben wurde. Dieser Essay ist ein Fragment des Buch-Manuskripts; Fragment deswegen, weil nach dem Typoskript auch das Manuskript sich in Rauch aufgelöst hatte: Während des Zweiten Weltkriegs war Papier in der Sowjetunion Mangelware. Michail Bachtin, starker Raucher, hatte, von hinten beginnend, fein säuberlich Seite um Seite seines Bildungsroman-Manuskripts aus seinem Schreibheft herausgerissen – um sich damit seine unverzichtbaren Zigaretten zu drehen. Übrig blieben ein paar Dutzend Seiten des Anfangs, die sich hauptsächlich mit Goethe befassen.
Eine Geschichte, die das Leben schreiben konnte, weil man damals noch schrieb – und zwar mit der Hand auf Papier. Heutzutage hören solche katastrophischen Textverluste auf einen ganz prosaischen Namen: Absturz, Computerabsturz. Im schlimmsten Fall verschwinden damit Texte in den unergründlichen Tiefen der Festplatte, ohne Spuren zu hinterlassen.
Nun braucht man nicht zu bedauern, daß mit philologischen Schauergeschichten à la Bachtin Schluß ist. Aber mit dem Einsatz des Computers als Schreibgerät, mit dem Verschwinden des Trägermediums Papier geht der Philologie, der Editionsphilologie eine Quelle verloren, aus der sich Aufschlüsse über die Entstehung eines Texts gewinnen lassen: das Manuskript oder das Typoskript mit handschriftlichen Notaten.
Notizen, Entwürfe, Fassungen, überarbeitete Niederschriften, Reinschriften und Korrekturen, die Einblick gewähren in die Genese eines Werks, werden Texte letzter Hand aus dem Computerzeitalter wohl kaum mehr erhellen können – einfach deswegen, weil es sie immer weniger gibt; weil beim Korrigieren auf dem Bildschirm Altes spurlos durch Neues ersetzt werden kann. Nicht zuletzt aus dieser Perspektive dürfte sich das gegenwärtige Interesse für alles ergeben, was mit der Tradierung handschriftlicher Quellen zu tun hat.
Wie eine umfassende Bestandsaufnahme am Ende einer Ära, ein eindringlicher Abgesang auf das semantische Potential handschriftlicher Überlieferung nehmen sich denn auch die Beiträge zu Band 4 der „Profile“ aus. Klaus Kastberger führt etwa anhand eines poetologischen Fragments von Hölderlin vor, wie bislang unbeachtet gebliebene Kritzeleien auf den Manuskripträndern einiges Licht in schwer verständliche Texte bringen können: Eine Gruppe geometrischer Figuren am unteren Rand der ersten Seite des Manuskripts, die bisher kaum jemand in einen Bezug zum Text gesetzt hatte, erscheinen so plötzlich als dessen Planskizze.
Neben solchen offensichtlichen Arbeitsspuren kann auch des jeweilige Schriftbild Auskunft über den Produktionsprozeß geben. Hier trifft sich die Philologie mit der Kriminologie: Die kriminalistische Disziplin Forensische Handschriftenkunde fußt ja auf der Tatsache, daß jede Handschrift in ihrer Eigenart einer Person eindeutig zuzuordnen ist. Wer allerdings einen Blick auf den handschriftlichen Nachlaß Doderers wirft, der wird dazu neigen, die einzelnen Schriftzeugnisse verschiedenen Verfassern zuzuordnen. Doderer hatte sich eine Vielzahl von Handschriften zugelegt. Er schreibt in den „Skizzenbüchern“ anders als in den „Studien-Heften“, wieder anders in den „Notizbüchern“ und in den Sammlungen für sein „Repertorium existentiale“ noch einmal ganz anders. Diese Wechsel von Schmuckschrift in Schönschrift, von „Mikroscriptur“ in Schnellschrift stellt Gerald Sommer in den Zusammenhang mit Doderers „großdimensionierter“ Autor-Pose, und er führt die Funktion der jeweiligen Schrift im einzelnen vor.
„Die Handschrift redet“, so betitelte der Oxforder Germanist Malcolm Pasley, Herausgeber der Kritischen Kafka-Ausgabe, ein „Marbacher Magazin“ über das Manuskript von Kafkas „Prozeß“: Pasley erläutert: „Sprechend ist zunächst die erstaunliche Verdichtung von Kafkas Schriftzügen im Verlauf seiner Arbeit am ‚Proceß‘-Roman: Sie verrät aufs deutlichste die zunehmende Anstrengung, die ihn diese Arbeit gekostet hat. Solange die Einfälle unbehindert fließen, wirkt das Schriftbild expansiv und selbstbewußt; an den zweifellos geglückten Stellen werden sogar die einzelnen Buchstaben vor lauter Übermut schnörkelhaft. Dort, wo sich die Geschichte ihren Weg erst mühsam suchen muß, zieht sich die Schrift zusammen und wird manchmal zittrig und verkrampft. So werden uns Höhen und Tiefen des Schreibprozesses graphisch vor Augen geführt.“ „Höhen und Tiefen des Schreibprozesses“ und auch Höhen und Tiefen im Leben des Schreibenden veranschaulichen im neuen „Profile“-Band detailliert und schlüssig Volker Kaukoreit und Marianne Tilch anhand von Autographen Heinrich Heines und Joachim Seng anhand von Autographen Hugo von Hofmannsthals.
Pasley ist allerdings entgegenzuhalten, daß die Handschrift nicht ohne weiteres redet, daß sie allenfalls zum Sprechen gebracht werden kann. Bernhard Fetz weist denn auch darauf hin, daß „Handschriften, vor allem alte, nicht mehr geläufige“, sich unserem Verständnis widersetzen. Schon auf der materialen Ebene werden wahre Glaubenskriege um die Entzifferung einzelner Buchstaben geführt. Und der Schluß von der Physiognomie der Schrift auf die psychische Verfaßtheit des Autors bedarf einiger Übersetzungs- und Interpretationsarbeit.
Es gibt manchmal eine ganz banale Erklärung für ein unruhiges Schriftbild. Doderer etwa erläutert eine verwackelte handschriftliche Eintragung in sein Journal folgendermaßen: „Dieses schreibe ich im Speisewagen, wohin ich aus meinem Abteil übersiedelt bin, da es dort der Hitze und verschiedener Gerüche wegen – welche teils organischer, teils anorganischer Herkunft sind – nicht gerade angenehm ist. Das Ding hier fährt nun zwar weich, schlingert aber stark.“ Heinrich Heine, der gesundheitlich so angeschlagen war, daß ihm Augen und Hand versagten, litt darunter, daß er Briefe diktieren mußte, daß er gleichsam nicht in seiner eigenen handschriftlichen Gestalt vor seine Briefpartner treten konnte: Er schreibt am 3. Dezember 1848 an seinen Bruder: „Am verdrießlichsten wird es mir wenn ich meiner Mutter zu schreiben habe und mich einer fremden Feder bedienen muß. Es schneidet mir tief durch’s Herz, wenn ich bedenke wie bekümmert die arme Frau sein muß wenn sie meine Schriftzüge nicht sieht.“ Kurt Tucholsky hatte da einen pragmatischeren Zugang: Er schrieb sogar Liebesbriefe mit der Maschine. Der Graphologe Max Pulver war darüber entsetzt. Er fand es unerhört, daß Tucholsky diese allerpersönlichste schriftliche Äußerung nicht mit der Hand zu Papier brachte. – Vielleicht kann Tucholskys Rechtfertigung die Editionsphilologen ja über den Verlust des Textzeugen Handschrift hinwegtrösten. Diese Rechtfertigung lautet: „Meine Schrift kann niemand lesen, / nicht mal ich.“