#Roman

Haus des flüssigen Goldes

Clemens Berger

// Rezension von Daniela Fürst

Clemens Berger erweitert mit seinem Roman Haus des flüssigen Goldes die Liste der modernen Superfoods um einen weiteren Eintrag: Muttermilch. Und die hat ihren Preis, sowohl für die Produzentinnen als auch die Konsument:innen.

Dass Muttermilch in ihrer Zusammensetzung und Qualität ein hervorragendes Nahrungsmittel für Säuglinge und Kleinkinder darstellt, das bezweifelt wohl heutzutage kaum jemand. Dazu braucht es auch keine Stillverordnungen der WHO oder dogmatisch geführte und mit biologischer Natürlichkeit begründete Empfehlungen diverser Interessengruppen und Organisationen.

Diese besondere und wertvolle Flüssigkeit steht auch im Kern des aktuellen Romans von Clemens Berger. So weiß auch Clarissa, eine der Hauptfiguren in Haus des flüssigen Goldes und die Gründerin von ebendiesem, um dieses Potential und setzt in Folge den nächsten, (markt-)logisch nur konsequenten Schritt: Sie macht ein Unternehmen daraus. Der Unternehmenszweck ist es, zahlungskräftigen Kund:innen zu ermöglichen, für gutes Geld qualitativ hochwertigste, ständigen Kontrollen und Analysen unterzogene Muttermilch zu kaufen. Diese kann aber in ihrer Zusammensetzung stark variieren und ist unmittelbar von Lebensstil und Ernährungsgewohnheiten der Frauen abhängig, was sich nicht nur in unterschiedlichen Qualitäten, sondern natürlich auch im Kaufpreis zeigt. Folglich wird von der smarten Geschäftsfrau alles daran gesetzt, die optimalen Bedingungen für die Produzentinnen, also die milchliefernden Frauen, zu schaffen, damit das Produkt auch wirklich zu flüssigem Gold wird. Neben guter Bezahlung ist das Haus selbst eine recht angenehme Wirkungsstätte mit Entspannungs- und Wellnesseinrichtungen, medizinischer Betreuung, professioneller Unterstützung in Sachen Internetprofil in diversen sozialen Medien und natürlich Kinderbetreuung, wo doch die Produzentinnen erst durch ihre Mutterschaft zu den so wertvollen Mitarbeiterinnen werden können. Und der Erfolg bestätigt Clarissa.

Eine ihrer besten Mitarbeiterinnen ist aktuell Maya. Als alleinerziehende Mutter hat Maya sich und ihre Tochter Mia bislang mit Gelegenheitsjobs über Wasser gehalten. Ihr erster „Kunde“ und somit auch derjenige, der sie erst auf die Möglichkeit des Verkaufs ihrer immer viel zu reichlich vorhandenen Muttermilch bringt, ist der Journalist Peter. Ihn lernt sie zufällig im Park gemeinsam mit seinem Sohn kennen. Seine Frau, so jammert er, habe viel zu wenig Milch für Benjamin und quäle sich zudem so sehr mit dem Abpumpen, während Maya sich über das Vielzuviel an Milch beklage. Außerdem sei Muttermilch ja viel besser für die Kleinen als Milchpulver und er würde auch gut zahlen. Ab da verdient sich Maya mit dem Verkauf an Peter ein kleines Taschengeld dazu. Doch erst dank Clarissa und dem Einstieg in das Unternehmen Haus des flüssigen Goldes wird sie über Nacht zur Topverdienerin und  nutzt so ihre Chance auf eine bessere Zukunft für sich und Mia.

So weit, so gut, müsste der größte nationale Hersteller von Milchpulver, der zudem ein Monopol auf dem Babymilchpulvermarkt hat, nicht plötzlich alle seine Produkte zurückrufen, weil eine seine Fabriken durch Bakterien kontaminiert wurde und letztlich – wenn auch nicht eindeutig bewiesen – drei Kinder daran gestorben sind. Dieser plötzliche Mangel, den einzelne Unmenschen noch durch ihre gewissenlose Profitgier verschärfen, lässt die auf Milchpulver angewiesenen Eltern völlig verzweifeln und schließlich ihrer Angst, Sorge und Wut lautstark Ausdruck verleihen. Die Proteste richten sich auch gegen das Haus des flüssigen Goldes, wo doch hier ebenfalls skrupellos Geschäfte mit etwas gemacht werden, worauf jedes Kind ein Anrecht hat und was gerade in Zeiten des Mangels solidarisch und vor allem gratis allen hungrigen Babys zur Verfügung gestellt werden sollte.

Eine Protestbewegung, über die medial nicht berichtet wird, wäre allerdings eine recht unbeachtete. So erzeugen sowohl die Protestierenden vor dem Haus des flüssigen Goldes sowie die Gegenseite, allen voran Clarissa, Aufmerksamkeit vor allem über  Social Media und inszenieren sich und ihre Argumente mit allen Mitteln. Eine spontane Handlung Mayas – sie stillt auf dem Parkplatz vor dem Haus ein hungriges Baby, das ihr die verzweifelte Mutter hinhält – katapultiert sie mit einem Schlag in das Auge des medialen Hurrikans und aus Maya, der Alleinerzieherin und Mutter, wird Maya, die Supermutter und Superkapitalistin. Von einem Tag auf den anderen wird sie entweder gefeiert oder mit Shitstorms überzogen, von Menschen und Medien zu einer Person des öffentlichen Interesses gemacht, mit allen Konsequenzen. Bald weiß sie selbst nicht mehr, auf welcher Seite sie steht und was das Richtige oder Falsche ist. Denn so viel ist klar, es gibt in den weiten Welten der sozialen Medien nur Team A oder Team B und über die Zugehörigkeit entscheiden nicht die Personen selbst, sondern all die empörten Menschen da draußen mit ihren Reaktionen und Kommentaren. Und für Maya ist damit der Punkt gekommen, das Steuer wieder selbst in die Hand zu nehmen.

Meist sind es Zufallsentdeckungen realer Absurditäten oder Besonderheiten, die Clemens Berger zum Anlass nimmt, daraus eine Geschichte zu schreiben. In diesem Fall (wie er in einem Interview zum Buch erzählt1) war es ein kurioser Trend, bei dem Bodybuilder:innen Muttermilch kaufen und konsumieren. Die Begründung dafür: Muttermilch ist hochkalorisch und die enthaltenen natürlichen Nährstoffe, Proteine und Wachstumshormone sollen sich positiv auf den Muskelaufbau auswirken. Führende Neonatolog:innen haben dafür freilich noch keine Belege gefunden. Aber was wissen die schon im Vergleich zu Influencer:innen und den Bodybuilder:innen selbst, für die der Slogan „Breast is the Best“ in dem Kontext wohl noch eine zusätzliche Bedeutung hat.

Nachdem er selbst vor einigen Jahren Vater geworden ist und weiß, mit welchen Lehrmeinungen und Glaubenssätzen rund um die richtige Ernährung von Babys Eltern konfrontiert werden, begann Clemens Berger über den Umgang mit Stillen, Muttermilch beziehungsweise dem Überschuss dieser zu recherchieren. Er entdeckte im Netz hunderte Videos von Frauen, die dort ihre Milch zum Verkauf anbieten, welche dann irgendwo übergeben oder per Post verschickt wird, mit allen Risiken für beide Seiten dieses Handels. Der Kapitalismus hat auch hier seine Wirkung längst entfaltet und generiert Profite, indem er Bedürfnisse ausnutzt und zudem geschickt neue schafft, mit allen bekannten Folgen. Zusammen mit der Infant Formula Shortage Crisis, die 2022 Amerika erschütterte, und dem auch in Österreich tatsächlich existierenden Schwarzmarkt für Muttermilch, bildete das die faktische Ausgangssituation für Clemens Bergers zehnten Roman.

Im Plot wirft Clemens Berger nicht nur zwischen den Zeilen beunruhigende Fragen auf. Fragen, die nicht eindeutig und allgemein gültig beantwortet werden können, die aber auf überaus reale und vakante Probleme in unserer Gesellschaft verweisen. Wo liegen die Grenzen des Marktes? Was darf nicht uneingeschränkt den kapitalistischen Marktmechanismen unterworfen werden? Zählt die sogenannte und überwiegend von Frauen getragene Care-Arbeit dazu, unter der vor allem Kinderbetreuung, Hausarbeit und die Pflege von Angehörigen verstanden wird, und die wie ein unsichtbares Rückgrat unsere Gesellschaft stützt und am Laufen hält? Andererseits ist es doch nur recht und billig, dass eine noch dazu wertvolle und gute Servicedienstleistung oder Ware entsprechend entlohnt und bezahlt wird. Aber genau das trifft in den seltensten Fällen auf Care-Arbeit zu. Ist es da nicht nachvollziehbar, dass Care-Arbeiterinnen – wie etwa stillende Mütter – versuchen, ihre Lage zu verbessern? Und warum ist gerade die Mutterschaft immer noch an so viele traditionelle Anforderungen und moralisierende Zuschreibungen geknüpft und zugleich dem Bild einer – trotz Kind – leistungsorientierten und „modernen“ Frau unterworfen? Warum also wird Maya von den Demonstrierenden als „Schande für alle Mütter“ (S. 9) und das Haus selbst als „hochindustrialisierter Kuhstall“ (S. 31) bezeichnet?

Clemens Berger verschärft den ohnehin schon explosiven Themenkomplex rund um Mutterschaft, Care-Arbeit und Kapitalismus noch mit den teils absurd anmutenden Wirkmechanismen und der erschreckend großen Macht der sozialen Medien, die für viele die zentrale Quelle ihrer Meinungsbildung sind und die, jedwede Komplexität negierend, immer nur zwei mögliche Ausprägungen anbieten: gut oder böse, dafür oder dagegen, richtig oder falsch. Aber das Beeindruckende und in seinem Unangenehmsein doch so Schöne am Roman ist, am Ende keine eindeutigen Antworten zu haben, keine objektiven Werturteile nach dem Schema gut und böse über die einzelnen Figuren im Text abgeben zu können und nicht genau zu wissen, welche Haltung zu Themen wie Markt, Medien und Muttermilch die „richtige“ ist. Zumindest ist es mir so ergangen und für mich zeigt sich genau darin die große Stärke des Textes. Unprätentiös, ohne eine eigene Expertise vorzugeben, setzt der Autor sich mit etwas auseinander, was herkömmlich gerne als „Frauenthema“ bezeichnet wird. Etwas, wovon viele (wohl manchmal auch zu Recht) der Meinung sind, dass Männer sich nicht dazu äußern sollten, ohne hier kulturelle Aneignung oder Paternalismus zu betreiben. Doch Clemens Berger versteigt sich nicht in Werturteile oder driftet in Bezug auf Thema, Handlung und Personen in eine vom male gaze gefärbte Perspektive ab. Er macht vor allem eines deutlich, nämlich dass es wohl kaum etwas oder jemanden auf der Welt gibt, das beziehungsweise der oder die ausschließlich gut oder schlecht ist und er erzählt eine richtig gute Geschichte, die den Figuren gerecht wird und die nachwirkt.

1 Clemens Berger: Haus des flüssigen Goldes – literadio


Daniela Fürst
ist Kultur- und Mediensoziologin und seit 2004 redaktionell sowie organisatorisch Teil des Projektes literadio, das Gegenwartsliteratur hörbar macht.

Clemens Berger Haus des flüssigen Goldes
Roman.
Salzburg – Wien: Residenz Verlag, 2024.
216 Seiten, Hardcover.
ISBN 9783701717910.

Verlagsseite mit Informationen zu Buch und Autor sowie einer Leseprobe

Homepage von Clemens Berger

Rezension vom 19.03.2025

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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