#Roman

Hélène – Befreiung ins
Irrenhaus

Eva Geber

// Rezension von Verena Dürr

In Hélène – Befreiung ins Irrenhaus gerät eine Frau gehobenen Standes, geboren Ende des 19. Jahrhunderts und im Alter von 16 Jahren an einen älteren k.u.k.-Diplomaten verheiratet, unter der Last von Haushaltsführung und Repräsentationsaufgaben zunehmend unter Druck, bis sie sich dem strengen Korsett ihrer Ehe auf radikale Weise entzieht.

Die Männer können die Frauen noch so gut verstecken, die Eva findet sie alle.“ – Mit diesen Worten beschrieb Ruth Klüger das Schaffen der Herausgeberin und Autorin Eva Geber (*1941), dass sie jenen Frauen widmet, deren Bedeutung von der Historie allzu oft in den Schatten gestellt wird. Mit Hélène – Befreiung ins Irrenhaus legt sie ihr bisher persönlichstes Werk vor. Sie rekonstruiert die Lebensgeschichte ihrer Großmutter, stellt diese ihrer eigenen gegenüber und berichtet von der über zehn Jahre andauernden Spurensuche. Die wenigen, jedoch liebevollen Erinnerungen an ihre Verwandte, die wenige Tage nach Ende des Zweiten Weltkriegs verstarb, begleiteten und prägten Eva Geber von Kindheit an ebenso wie das Schweigen der Familie über deren vermeintliche Verrücktheit und Aufenthalte in der Irrenanstalt, wie man psychiatrische Einrichtungen damals noch nannte.

Wie auch schon in ihren letzten semi-fiktional angelegten Romanen über die Anarchistin Louise Michel und die Fotografin Madame D’Ora fühlt sich Geber auf Basis akribischer Recherchen tief in die Welt ihrer Figur ein. Klassische Romanstrukturen hinter sich lassend, unterbricht sie immer wieder die Handlung, um die Ereignisse zu kommentieren und in größere zeitliche und familiäre Zusammenhänge zu stellen.

Eindringlich und empathisch beschreibt Geber, wie ihre Protagonistin aus einem kunstsinnigen Elternhaus und von ihrer Jugendliebe fortgerissen wird, um in der Abgeschiedenheit einer arrangierten Ehe für die „Veredelung des Familienlebens“ zu sorgen. Hélènes Mann pflegt selbst einen verschwenderischen Lebensstil, gesteht seiner Ehefrau jedoch nur minimale Mittel zu, um ihre Aufgaben als Dame des Hauses zu seiner Zufriedenheit zu erfüllen.

Während Hélène mit oberflächlichen, von ihr extra vorm Spiegel einstudierten Sätzchen über Wetter, Jagd und Hofklatsch zu brillieren hat, kreisen ihre Gedanken um Menüabfolgen, notwendige Kondolenzbesuche, sparsame Einkaufslisten, die Sorge um ihre zwei Kinder und die bedrohliche Weltlage. Der ständige Zwang zur Contenance in der gehobenen Gesellschaft stehen im Widerspruch zu Hélènes überbordendem Gefühlsleben und ihrer Sehnsucht nach Selbstbestimmung, was sich schon in jungen Jahren in Form von Nervenzusammenbrüchen und Paranoia manifestiert. Die Frau leidet unter dem, was wir heutzutage als „Mental Load“ kennen – also die Gesamtheit der alltäglichen Aufgaben von Haushaltsführung und Sorgearbeit, die oftmals als „nicht der Rede wert“ betrachtet werden und immer noch großteils Frauen obliegt.

Die politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen zu Beginn des vorigen Jahrhunderts fallen vor allem in Form zusätzlicher Hausarbeit auf Hélène zurück. Etwa wenn es gilt, die aufwendigen Roben für die vielen Ordenstitel-Verleihungen ihres Mannes zu reinigen oder noch schnell ein kurzfristig angesetztes diplomatisches Diner zu organisieren. Zunächst bewältigt sie ihre Arbeit noch mit viel Kreativität, nachhaltigem Wirtschaften und einem innerfamiliären Beschaffungsnetzwerk und füllt die Tafeln ihres Mannes trotz mangelnden Budgets mit ihren eigenwilligen Kreationen. Dafür tröpfelt es zwar ab und zu ein wenig Anerkennung von Gästen und Gatte, dennoch will man schreien: Bezahl die Frau gefälligst, sie ist deine Event-Managerin! Hier zeigt sich deutlich: „Das Private ist politisch!“ – so der Leitspruch der zweiten feministischen Welle der 1970er Jahre, bei der Eva Geber in der Wiener Frauenszene eine wesentliche Akteurin war.

Hélène sympathisiert zwar mit selbstbestimmten Lebensentwürfen wie jenen von Adelheid Popp, George Sand oder Marie von Ebner-Eschenbach, über die sie liest, man bei Kaffeekränzchen verhalten munkelt oder von denen ihr ihre Hausangestellten erzählen („[…] was ich so bewundere ist ihr Mut, sich über den Klatsch hinwegzusetzen […]“, S.27). Gegen die eigene Unterdrückung aufzubegehren, scheint ihr jedoch nicht möglich. Hélène, zur Unmündigkeit erzogen, erträgt ihr Los mit der gleichen Gefasstheit wie ihre Schwiegertochter (die Mutter der Autorin) später die Brutalität ihres Mannes. Die Autorin selbst verharrt zwar ebenfalls noch einige Jahre in einer lieblosen Ehe – doch sie wird sich letztlich durch Scheidung wirklich befreien. Gebers Mutter flüchtet noch auf Sommerfrische inklusive Kurschatten. Hélène wählt die Psychiatrie. Dort ist sie von der Sorgearbeit befreit und man kümmert sich nun um ihre Bedürfnisse. Sie findet Ruhe zum Lesen und knüpft da und dort zarte Bande mit anderen Frauen. Und einmal auf den Geschmack gekommen, lässt sie sich ihre Verrücktheit und ihr Refugium auch nicht mehr nehmen. Wagen es die Ärzte doch einmal, sie gesundschreiben und nach Hause schicken zu wollen, verzeichnen die medizinischen Unterlagen, die Eva Geber nach hartnäckiger Suche geborgen hat, eine plötzliche Verschlechterung ihrer mentalen Konstitution.

Hélène – Befreiung ins Irrenhaus ist ein dichtes Kompendium, gespickt mit einer Fülle an historischen Fakten, literarischen Querverweisen, poetischen Einsprengseln, großmütterlichen Rezepten und dem Vokabular der Zeit (z. B. der „Vatermörder“: ein schwer zu stärkender Stehkragen). Und es wäre kein Buch von Eva Geber, wenn nicht auch noch zahlreiche Dichterinnen, Revolutionärinnen und Vorreiterinnen des Feminismus Erwähnung finden würden, wie George Sand, Júlia Bányai oder Bertha von Suttner, deren Geschichten Hélènes Freiheitsdrang befördern.

Die Stimme von Hélène und jene der Autorin sind formal durch Einzüge unterschieden, doch überlagern sie sich manchmal sehr stark und das führt an mancher Stelle zu Unklarheiten in der Perspektive. Es macht allerdings auch deutlich, wie sehr sich die Lebensthemen dieser Frauen ähneln. Sie teilen nicht nur das Schicksal einer einengenden Ehe, sondern auch ihre Liebe zur Literatur und zur Natur, die Fähigkeit, mit bescheidenen Mitteln viel zu schaffen und ihren Gerechtigkeitssinn. Während Hélène die Auswirkungen patriarchaler Unterdrückung nur observieren kann, wird ihre Enkelin dagegen aufstehen. Sei es im Privaten, in ihrer Rolle als Angestellte in einer Anwaltskanzlei konfrontiert mit Themen der häuslichen Gewalt oder als Mitbegründerin und Redakteurin der feministischen Frauenzeitschrift AUF – Aktion Unabhängiger Frauen.

Die Autorin mag etwas von der höflichen Zurückhaltung ihrer Großmutter geerbt haben, wenn sie ihre eigene Lebensgeschichte im Dialog mit ihrer Vorfahrin erzählt. Doch beim Lesen wird die ausdauernde und brodelnde Wut auf die Verhältnisse, die Frauen unterdrücken, spürbar und auch die Genugtuung, wenn sich patriarchales Denken selbst ad absurdum führt: Wenn etwa Hélènes verschwendungssüchtiger Ehemann – ein nicht unbedeutender politischer Akteur seiner Zeit – am Ende entmündigt wird, weil die sparsame Frau nicht mehr da ist, um auf seine Finanzen zu achten.

Hélène – Befreiung ins Irrenhaus ist in jedem Fall ein empfehlenswertes, vielschichtiges Buch und, weil es auch von der Person Eva Geber selbst handelt – ihrer Politisierung und Motivation, in der Frauenbewegung aktiv zu werden –, ein Dokument der österreichischen, feministischen Geschichte.


Verena Dürr
ist Autorin und Sozialbetreuerin in Wien lebend. Sie schreibt Hörspiele, Prosa und Essays, ist im Vorstand des Vereins AUF-Kultur und Mitglied der GAV, Mitveranstalterin der Lesereihe Musenküsse und ein Teil der Literaturpunkband Smashed to Pieces. www.venerasinn.com 

Eva Geber Hélène – Befreiung ins Irrenhaus
Roman.
Wien: Marsyas Verlag, 2024.
300 Seiten, Hardcover.
ISBN 9783903469-04-4.

Verlagsseite mit Informationen zu Buch und Autorin

Zur Person Eva Geber

Rezension vom 22.07.2024

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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