#Sachbuch

Hermann Brochs Kosmopolitismus: Europa, Menschenrechte, Universität

Paul Michael Lützeler

// Rezension von Alfred Pfabigan

Eine der sperrigsten Hinterlassenschaften der österreichischen Literatur der Zwischenkriegszeit und des Exils sind die theoretischen Schriften Hermann Brochs. Die „Massenwahntheorie“, an der Broch mit Unterbrechungen von 1939 bis 1948 arbeitete, sein Versuch, sich und dem Publikum Phänomene wie den Nationalsozialismus zu erklären und Konzepte zur künftigen Verhinderung ähnlicher Erscheinungen zu formulieren: ein Band von nahezu 600 Seiten, teilweise fragmentarisch, widersprüchlich, eklektisch, manchmal wesentliche Literatur ignorierend und dennoch für jeden politisch Interessierten ein „Steinbruch“ origineller und haltbarer Überlegungen.

Das gleiche gilt für die „Politischen Schriften“. Schon die Dreiteilung des Bandes, der Texte aus den Jahren von 1919 bis 1950 sammelt, zeigt die Breite von Brochs Interessen: Demokratie und Sozialismus / Friede und Menschenrecht / Praxis und Utopie. Zur Aufgabe der Intellektuellen. Ähnliches gilt für Brochs „Philosophische Schriften“, die in einem Band seine Wert-, Geschichts- und Erkenntnistheoretischen Schriften enthalten, die thematisch von der aktuellen Kulturkritik bis zu Überlegungen zum Problem der Erkenntnis in der Musik reichen, und im zweiten Band Brochs Kritiken sammeln, wobei der Bogen der rezensierten Literatur von Houston Stewart Chamberlain über Max Adler bis Ernst Bloch und Jean Paul Sartre reicht. Das ist, angesichts des Umstandes, dass Broch ja auch Ingenieur, Industrieller und Funktionär war und im Exil gelegentlich unter materiell bedrückenden Verhältnissen litt, eine bemerkenswerte Leistung, die aber gleichzeitig manche Schwächen seines theoretischen Werkes erklärt.

Broch war ein multidisziplinärer Autodidakt, doch fehlt seinem Werk jene Strenge, die das in manchen Bereichen vergleichbare Werk „Masse und Macht“ von Elias Canetti auszeichnet. Broch war auch nicht die zur Vollendung seines Werkes erforderliche Lebenszeit vergönnt. In Summe eignet dem theoretischen Gesamtprojekt Brochs etwas den unbefangenen Leser Überforderndes, auch kann es leicht geschehen, dass man sich nach einer leichtsinnigen, aber apodiktisch vorgetragenen Formulierung enttäuscht davon abwendet.

Paul Michael Lützeler hat sich – als Herausgeber, Biograf und Kommentator – unermessliche Verdienste um Broch erworben und die – kleine, aber feine – Broch-Renaissance ist wohl weitgehend sein Werk. Lützeler hat sich seit Jahrzehnten unentwegt bemüht, darauf hinzuweisen, dass man nicht nur „über“ Broch arbeiten solle – was ja tatsächlich geschieht – sondern auch mit ihm. Es war ein glücklicher Einfall von Hubert Christian Ehalt, Lützeler im Rahmen der „Wiener Vorlesungen“ einzuladen, sozusagen den haltbaren Succus von Brochs Konzepten vorzustellen. Herausgekommen ist ein schönes Bändchen, das Brochs Überlegungen in den Kontext des Zusammenstoßes zweier Bezugssysteme stellt: dem Europa der notorischen Kulturkrise und des Zerfalls der Werte und dem amerikanischen Exil, wo Broch als gut integrierter Exponent der „Vertriebenen Vernunft“ Zeitzeuge des sozialreformerischen Elans der Roosevelt-Ära wurde. Durch Lützelers Kommentar wird klar, wieso eine voraussetzungslose Lektüre Brochs so schwer ist. Als Theoretiker ist dieser Autor ganz offensichtlich kommentierungsbedürftig, viele Überlegungen, die heute schwer nachvollziehbar sind, sind tatsächlich Antworten auf Hannah Arendt, Elias Canetti, Karl Jaspers, Carl Schmitt oder die Pan-Europa-Bewegung.

Es gibt, allen manchmal weitschweifigen Formulierungsversuchen Brochs zum Trotz, ein Kontinuum in seiner Argumentation, das Lützeler präzise und mit allen seinen Konsequenzen herausarbeitet: jede politische Konzeption muss zwingend ihren Ausgang beim Menschen nehmen. Das war Brochs Leitlinie, die ihm für zahlreiche aktuelle Fragen eine Antwort geliefert hat. Um nur ein aktuelles Beispiel zu nennen: Lützeler verweist auf die aktuellen Überlegungen zu einem „Weltethos“: Broch war hier ein kompromissloser Universalist und trotz aller Toleranz in weltanschaulichen Fragen standen die Menschenrechte bei ihm niemals zur Disposition interkultureller Relativierung. In seinem Rechtsdenken und in seinen Überlegungen zur Demokratie hat Broch einen bleibenden Beitrag zum westlichen Wertsystem geleistet – das in knapper und übersichtlicher Form bewiesen zu haben, ist als weiteres Verdienst in den Bemühungen Lützelers um Hermann Broch zu verbuchen.

Paul Michael Lützeler Hermann Brochs Kosmopolitismus: Europa, Menschenrechte, Universität
Wien: Picus, 2003.
(Wiener Vorlesungen im Rathaus. 91).
54 S.; geb.
ISBN 3-85452-391-2.

Rezension vom 13.05.2003

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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