Doch zurück zum Anfang. Hertha Kräftner wurde am 26. April 1928 in Wien geboren und wuchs bei ihren Eltern im burgendländischen Mattersburg auf. Petrik spricht im Zusammenhang mit der Kindheit der späteren Dichterin von einer „Verstörung“, ohne diese klar zu umreißen. Zwar gerät das hochbegabte Kind nolens volens in die Rolle der Außenseiterin, womit sich die psychischen Störungen der Erwachsenen freilich nicht begründen lassen. Die traumatisierenden Ereignisse, die auch in Kräftners Werk ihre Spuren hinterlassen haben, sind nämlich viel später anzusiedeln.
Als die Rote Armee nach Kriegsende in ihre Heimatstadt einzieht, wird die junge Frau von russischen Soldaten vergewaltigt. Wahrscheinlich, so mutmaßt Petnik, ist dieses Verbrechen die Ursache für jenen folgenschweren Zwischenfall, der sich Ende März 1945 ereignet. Nachdem ein russischer Offizier in die Wohnung der Familie Kräftner eingedrungen ist, löst sich ein Schuss aus seiner Pistole, der die anwesende Hebamme tötet und den Arm ihrer Tochter durchbohrt. Während der Vater, Viktor Kräftner, einschreitet, wird er durch einen Säbelhieb im Gesicht und am Hals schwer verletzt und stirbt im September an den ihm zugefügten Schnittwunden.
Die sensible junge Frau fühlt sich wenig überraschend in zweifacher Hinsicht schuldig. Einerseits trägt sie den Makel der Schändung, anderseits glaubt sie für den Tod des Vaters verantwortlich zu sein. Die Erinnerung an diese einschneidenden Ereignisse lässt sich nicht verdrängen und stürzt Hertha Kräftner in Depressionen, zu denen sich neurotische Verstimmungen gesellen, die sie vergeblich zu kontrollieren sucht. Eine zeitweilige psychotherapeutische Behandlung bei Viktor Frankl zeitigt naturgemäß keinen Erfolg.
Kräftners Beziehungen werden durch ihre chronische Krankheit in Mitleidenschaft gezogen. Hinzu kommt, dass ihre Liebhaber – Otto Hirss, Harry Redl, Wolfgang Kudrnofsky und andere – weder das einfühlende Verständnis für die Stimmungsschwankungen der intelligenten, attraktiven Frau aufbringen, noch in der Lage sind, ihr den nötigen emotionalen Halt zu bieten. Während sich Kräftner in diesen komplizierten Liebesversuchen verschleißt, lässt sie eine Abtreibung durchführen. Daneben treibt sie ihr Studium der Germanistik und Anglistik voran, beginnt eine Dissertation und arbeitet emsig an ihrem Werk. Kräftner geht mithin in jeder Hinsicht an ihre Grenzen.
Mit minutiösem Eifer nimmt die Autorin die verwischten Spuren auf, kontaktiert Zeitzeugen und will dergestalt Licht ins Dunkel dieser durch Verleumdungen und Vermutungen entstellten Biografie bringen. Vor allem mit Kräftners vermeintlichen Gönnern aus dem Dunstkreis um Hans Weigel sowie ihren Liebhabern geht sie hart ins Gericht, sodass bisweilen der Eindruck entsteht, Petrik argumentiere in eigener Sache, wenngleich sie im Buch gelobt: „Ihr [= Kräftner] eine Stimme geben, nicht mir ihren Ton“ (S. 34). Diesem Vorsatz wird die Autorin allerdings nur bedingt gerecht. Einerseits gelingt es ihr, Kräftners Seelenleben auf plastische Weise darzustellen und so dem Rezipienten nahezubringen, anderseits geht die Involviertheit mit dieser tragischen Frauenfigur so weit, dass das biografische Projekt unversehens autobiografische Töne anschlägt. Es mag durchaus spannend sein, in die Genese der Verfehlten Wirklichkeit eingeweiht zu werden, weniger interessant wird die Sache freilich, wenn die Autorin dies als Vorwand für eine verbale Abrechnung mit persönlichen Widersachern missbraucht.
Dazu drei Beispiele: „Kräftner ist mein/unser Thema, ließ sich vor Jahren hören, also Hände weg von der Kräftner“ (S. 34). Oder: „Wenn Mann also hier so herzhaft sachlich sein darf, wird es schwierig, sachlich zu bleiben: ‚Täterin!‘ Oft und gern fallengelassen, ein Sager, den man gern überhört haben möchte, doch er kommt wieder, er wiederholt sich über die Jahre. Mann darf sich auch auf die Literatur-Wissenschaft(lerin) stützten, hat beste Kontakte, hat Zugang zum nötigen Finanztopf. So macht man das. Wer dagegen opponiert, korrigiert, wird zusammengestutzt als Erfinder, als Nestbeschmutzer, wird in Rundfunksendung per O-Ton gewatscht“ (S. 82). Ebenso: „Nochmals zu Kräftners ‚Liebes-Phantasmen‘, zur Liebe, ihren Männergeschichten und Eskapaden, zu ihrer Sexualität, liebend gern ausgeschlachtet durch die Sekundärliteratur und also nicht nur von den männlichen Nacharbeitern“ (S. 87).
Passagen wie diese zeigen, wie Fremdes zu Eigenem wird, wie die Analyse persönlicher Verletzungen jäh die Arbeit an Kräftners Psychogramm in den Hintergrund drängt. Dass sich die Sekundärliteratur auch und mitunter sogar auf ungebührliche Weise mit dem Innenleben der früh vollendeten Schriftstellerin befasst hat, steht außer Zweifel, es drängt sich allerdings der legitime Verdacht auf, dass auch Petrik diesen ‚Stoff‘ „ausgeschlachtet“ hat und den von ihr eingeforderten „Respekt, der dieser Autorin zukommt“ (S. 77), stellenweise vermissen lässt. Trotz ihrer engagierten Auseinandersetzung mit dem ‚Fall‘ Kräftner, deren Liebesleben und Freitod in den Augen eines katholisch-patriarchalisch verbrämten Österreichs einen unverzeihlichen Tabubruch darstellten, verfehlt ihr Ansatz genau das Ziel einer späten Rehabilitierung dieser genialen Literatin. Zu viel Polemik und zu wenig Sachlichkeit unterlaufen die durch Fußnoten demonstrierte fachliche Kompetenz und stören den Leser dabei, sich ausgehend von den vorgebrachten Fakten selbst ein Bild von Hertha Kräftner zu machen.
Was also anfangen mit diesem Text? Wer sich neue Perspektiven auf Kräftners Literatur erwartet, wird das Buch nicht aufschlagen. Wer hingegen an der Aufklärung jener Ursachen interessiert ist, die in Kräftners Suizid kulminierten, wird in dieser chronique scandaleuse gewiss fündig werden. Alles in allem verweist Die verfehlte Wirklichkeit exemplarisch auf die inhärente Gefahr allzu großer Identifikation mit dem biografischen Objekt und lässt uns bedauern, dass sich die ausgewiesene Kräftner-Kennerin in privaten Befindlichkeiten verirrt hat, anstatt ein wichtiges Buch zu verfassen.