Am besten gefällt mir Gert Jonke dann (wie in „Anfangen in einer kleinen südösterreichischen Stadt“), wenn seine Geschichten nicht vor skurrilen Einfällen, bizarren Erlebnissen schier platzen, obwohl die Originalität seiner Ideen reizvoll ist. Gerade die übermütigen Gedankenspiele seines beweglichen Geistes lassen bei den fünfzehn Texten auf einen noch jungen Autor schließen, der sich seiner gestalterischen Imaginationskraft noch nicht sicher ist und den Leser erst mit etwas Außergewöhnlichem, mit Geistesblitzen, ködern muß.
Aber Gert Jonke hat natürlich auch große Lust am Spiel; das Spiel von Sein und Schein fasziniert ihn noch heute. Er liebt die Dinge nicht so, wie sie sind; er liebt sie, wie sie sein könnten. Seine Wirklichkeit hat viele Gesichter, gesichertes Wissen kippt im Augenblick des Schreibens ins Ungewisse, Wahrheiten zersplittern in tausend Scherben, können sich aber mühelos wieder zusammensetzen usf.
Ein Fischgroßhändler ist daher in Wirklichkeit trotz gelungener Tarnung kein Fischgroßhändler; in Wirklichkeit ist er Politiker, der mächtigste Mann im Staat, und die Politiker sind in Wirklichkeit keine Politiker, sondern Marionetten, die sich im innersten Herzen vielleicht danach sehnen, Fischgroßhändler zu werden – oder: der Fischgroßhändler ist in Wirklichkeit wirklich ein Fischgroßhändler, der sich mit einem Schriftsteller einen milden Witz erlaubt (in „Großfischhändler am Donaukanal“).
Gert Jonke hat sich fast alle Erzählungen in „Himmelstraße – Erdbrustplatz“ ergangen. Er ist durch zahllose Straßen gewandert, auf der Suche nach Material, er ist einer der wenigen, die Wien aus der Perspektive des Fußgängers kennen. In „Herbstnebel – Rosenhügel“ schlendert er an einem trüben Herbsttag, ein wenig fehl am Platz, durch die stillen Nobelstraßen des 13. Wiener Gemeindebezirks, als er einen Arbeiter erblickt, der „Bretter alle parallel waagrecht vom Boden aus in die Höhe genagelt hat.“ (S. 23) Sein Sinn für Ästhetik ist sofort verletzt, der Ich-Erzähler bittet um ein einziges senkrecht genageltes Brett – natürlich ohne den geringsten Erfolg, der Arbeiter nagelt seine Bretter weiter streng symmetrisch.
Oder: Mit leichter Hand, mit dem geübten Schwung des gewieften Flaneurs verpackt er den ALTEN PLATZ in ein handliches Paket, als dieser ihn anzuöden beginnt, bis ihn ein Jemand unverhofft wieder ausbreitet („Die kleine Stadt am See“).
Für die Erzählungen Gert Jonkes gibt es viele Apostrophe: „originell“, „phantastisch“, „zynisch“, „witzig“, „absurd“, „merkwürdig“, „komplex“ und „kompliziert“ sind die wohl häufigsten. Die Texte wurden als „Anti-Erzählungen“, als „Vielleicht-Erzählungen“ und als „Sprachexperiment“ charakterisiert; und sie sind tatsächlich schwer zu fassen, schwer einzuordnen.
Das letzte Wort sei Gert Jonke überlassen:
„Ich glaube nicht an normale Erzählungen. Ich kann nur an Erzählungen, die durch andere Erzählungen unterbrochen werden, glauben.
Ich glaube, jeder einzelne Satz der Erzählung muß durch einen darauffolgenden Satz einer zweiten oder dritten Erzählung unterbrochen werden.
Indem ich jeden Satz der Erzählung vom folgenden Satz der Erzählung durch einen Satz einer zweiten oder dritten Erzählung trenne und erst später einsetze, erhalte ich viele Erzählungen in einer einzigen Erzählung.
Die Leute hören viele Erzählungen.
Es gibt viele Erzählungen.“
(aus: „Glashausbesichtigung“ (1970), in: Die erste Reise zum unerforschten Grund des stillen Horizonts. Salzburg, Wien: Residenz, 1980, S. 218)