#Prosa

Hinüber

Evelyn Grill

// Rezension von Anne M. Zauner

„Zeig mir, wie man stirbt, Bruder.“ (S. 44)
Die oberösterreichische Autorin Evelyn Grill erstellt in ihrer kurzen Erzählung Hinüber das klassische Psychogramm einer Frau auf der Flucht: ihre Hauptfigur, die Ich-Erzählerin, unternimmt hektische Anstrengungen, um ihren Familien-Verstrickungen zu entkommen – vergeblich, wie schon nach den ersten Sätzen klar ist. Die Familie hat ein unschlagbares Mittel zur Hand, die Gejagte immer wieder einzuholen: den todkranken Bruder Willi Zirnsack.

 

„Ich brauche Trost.“ (S. 34)
Die namenlose, nicht mehr junge Frau läuft nicht nur vor ihren Angehörigen davon, sie wird auch von Erinnyen gejagt, die ihr einflüstern, schuldig zu sein: sie ist auf verschlungenen, Freudschen Wegen schuld am Sterben ihres Bruders. Und Willi Zirnsack stirbt nicht leise. Am Telefon hört sie entsetzt und sprachlos zu, welch neue Torturen sich die Medizin für Willi ausgedacht hat. Immer dringender fordert die Familie: komm heim, und unterschwellig: kehr heim.

„Willi hing zwischen der Sprechstundenhilfe und dem Arzt. Auf den weißen Kitteln der beiden seien Blutspritzer gewesen. Sein Gesicht war angeschwollen und bis zu den Augen hinauf blutverschmiert.“ (S. 12) Evelyn Grills Sprache ist drastisch und bildhaft. Mit wenigen gekonnten Federstrichen entwirft sie ihre Figuren, läßt sie um die Ich-Erzählerin tanzen und ihr das Leben zur Hölle werden. Da klingen die langen Erinnerungenspassagen an die Kindheit, obwohl auch sie schwierig und unglücklich war, beinahe heiter. Denn aus der Distanz betrachtet wird der Selbstmordversuch Episode, zählt das Unbehagen in der eigenen Haut nicht mehr; wurden aus schmerzhaften Mutproben verblaßte Narben; auch die latente Kinder-Eifersucht auf den Bruder gehört nun der Vergangenheit an.

Schließlich hatte die Ich-Erzählerin den entscheidenden Schritt gewagt. Ängstlich zwar und voller Skrupel war sie doch als einzige ausgebrochen aus dem trostlosen österreichischen Dorf, aus ihrem Familienclan und in die Fremde gezogen.
Das Sterben des Bruders holt sie unbarmherzig zurück. „Im Schoße unserer Familie wollen wir leben und glücklich sein, trauern und sterben sollen wir unter Fremden. Und du Bruder, was meinst du dazu?“ (S. 64)

Evelyn Grills Erzählung mit dem belanglosen Titel hält die Spannung bis zum Schluß. Die Autorin läßt die Figuren glaubhaft in ihrem Leid versteinern. Es gibt für sie keine Erleichterung, – solange der Bruder nicht gestorben ist.
Sprachsicher schildert Grill die wachsende Sprachlosigkeit der Charaktere angesichts der Katastrophe. Ihre knappen, präzisen Sätze treffen das Entscheidende. Nach einem letzten Fluchtversuch in den Schwarzwald stellt sich die Ich-Figur endlich ihrem Bruder. Jetzt will sie die Auseinandersetzung mit ihm, mit dem Tod. Das Sterben, fordert sie, muß einen höheren Sinn haben; wozu sonst all das Leid? Die Konfrontation findet natürlich nicht statt – stimmt auch sie in das oberflächliche, künstlich optimistisch gestimmte Alltagsgewäsch der anderen mit ein, das allein den dahindämmernden Bruder einlullt. Also fährt die Schwester wieder ab, ungetröstet.

Am Schluß der Geschichte ist der Bruder noch am Leben. Das Telefon wird weiter läuten. Neue Qualen, neue Tränen werden am anderen Ende der Leitung warten und auf die Ich-Figur einstürzen. „Am Morgen nach dem Frühstück steige ich ins Auto und fahre zurück. Meine Mutter wird mich telefonisch auf dem laufenden halten. Ich erlaube mir keine Rast, nur einmal muß ich den Tank auffüllen.“ (S. 107)

Evelyn Grill Hinüber
Erzählung.
Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1999.
107 S.; brosch.
ISBN 3-518-12097-2.

Rezension vom 01.07.1999

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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