Die Hauptfigur, der Consulter Marius Tankwart, der Zitate wie das oben genannte auf Karteikarten notiert und sammelt, erkennt sich selbst als von diesem Erziehungsstil geprägt. In seiner Kindheit wurde von ihm Disziplin und Ordnung verlangt, ein „Aufbegehren“ war ihm fremd. Die Beziehung zu seiner Mutter blieb bis ins Erwachsenenalter von Gefühlskälte geprägt. Tankwart ist in seinem Job als Berater zwar sehr erfolgreich, aber er ist nicht glücklich. Eine Zufallsbekanntschaft mit einer einsichtsvollen alten Dame, die in ein freundschaftliches Verhältnis mündet, zeigt ihm neue Wege zu sich selbst auf. Nun will er aus seinem Leben aussteigen, ein Ticket nach Mexico-City hat er „One-Way“ bereits gebucht. Bevor er jedoch einen neuen Lebensabschnitt beginnt, will er noch ein letztes Assessment-Seminar leiten. An einem Wochenende im abgelegenen „Hotel Weitblick“ soll er aus vier leistungsstarken Kandidaten eine Person für den Posten der Geschäftsführung einer Agentur empfehlen.
Es ist eine Show der sogenannten Leistungsträger, in die man in Silberers Roman eintaucht. Die Romanfiguren, die sich zu Tankwarts Seminar im Hotel einfinden, sind – prägnant beschriebene – Charaktere, zu deren Werten Ehrgeiz, Disziplin und beruflicher Erfolg zählen; die nach außen hin Härte zeigen und dabei doch geplagte Seelen sind. Zu diesen zählen die tough auftretende Anette, die seit Kurzem von Panikattacken geplagt wird und den unerfüllten Wunsch nach einem Kind in sich trägt, und der disziplinierte und sportbesessene Helmut, der krankhaft Kalorien zählt. Auch Horst, der seinen Alltagsfrust gerne in Foren auslässt, in denen er gegen „linkes Gutmenschengerede“ wettert und Franz, der sich als belastbarer Familienmensch darstellt – wobei seine Ehe aufgrund seiner häufigen beruflichen Abwesenheit längst am Bröckeln ist – finden sich zum Konkurrenzkampf um den Führungsposten im Hotel ein. Als Marius ihre Erwartungshaltung an das Seminar nun unterläuft, indem er, anstatt ihre Führungsqualitäten auszuloten, beginnt „über das Wesentliche“, über ihre Befindlichkeit zu sprechen und mit Hilfe von Achtsamkeitsübungen versucht, erlernte Verhaltensmuster der Teilnehmenden aufzubrechen, reagieren diese zunehmend irritiert und ablehnend.
Der Roman ist in drei Abschnitte gegliedert, die jeweils einem Seminartag zugeordnet sind; die Teilnehmenden treten als Ich-Erzähler auf. Die unterschiedlichen Perspektiven ermöglichen den Blick auf das Innenleben dieser Figuren, die sich ansonsten nicht gerne durchschauen lassen, genauso wie ein Betrachten ihres Handelns aus der Sicht der anderen. Die Konzentration des Handlungsortes auf das Hotel erzeugt ein dichtes, kammerspielartiges Setting. Sehr bildlich gestaltet sind die teilweise hitzig und zynisch geführten Gespräche zwischen den Konkurrenten, die nicht nur auf Tankwarts ungewöhnliche Seminarführung ungehalten reagieren, sondern sich dabei auch vermehrt gegenseitig anfeinden. Dabei entstehen Situationen überspitzter Komik.
Ich frage, wer von Ihnen hat etwas mitzuteilen?
Horst sagt, ich werde schweigen.
Helmut sagt, du?
Ja, Griegler, ich. Was bezwecken Sie überhaupt, Herr Dr. Tankwart, ich werde mir das nicht bieten lassen.
Helmut sagt, von wegen schweigen. Horst, du, du, du kennst nur Schwarz und Weiß, du.
Horst unterbricht, und bei dir ist das anders, angeblich? Wir wissen, du bist Läufer und bla-bla.
Helmut sagt, ich lasse mich hier nicht entwerten.
Franz unterbricht, aber bitte, ihr nehmt alles so persönlich. Ich frage mich, wie ihr es in eure Positionen geschafft habt, so verweichlicht, wie ihr seid.
Horst grinst, mit viel Fleiß und Überzeugungskraft.
Annette lacht, natürlich, sagt sie, Fleiß, natürlich.
Beweisen die am Seminar Teilnehmenden im oberflächlichen Konkurrenzkampf auch Schlagfertigkeit, erleben sie hinsichtlich ihrer Gefühle jedoch Momente tiefer Sprachlosigkeit. Was man wirklich sagen möchte, verbeißt man sich, es bleibt ungesagt oder es fehlen die Worte dafür; in ihrem Inneren lauert das „Noch nicht Benannte“. Als Horst etwa im geschäftlichen Bereich für eine völlig transparente Kommunikation eintritt, die keine Unstimmigkeiten mehr zulassen soll, bleibt Annette ihr Widerspruch sozusagen im Hals stecken:
„Da ist ein Aufschrei in ihr, der sich nicht orten lässt. Sie schweigt, presst die Lippen aufeinander, beißt mit den beiden Vorderzähnen auf die Lippe, nimmt ihren Herzschlag wahr. Es ist kein klarer Gedanke in ihrem Kopf, der sich aussprechen ließe.“
Wie schon in Silberers Erzählband „Das Wetter hat viele Haare“, treten auch in ihrem Roman Figuren auf, deren Erleben mit den Erfahrungen und Traumata der Generationen vor ihnen verknüpft ist. So lassen Tankwarts Methoden die Teilnehmenden zwar zunehmend am Verstand ihres Seminarleiters zweifeln und man hat beim Lesen das Gefühl, dass er nicht zu ihnen durchdringen kann, andererseits erinnern sich alle an von emotionaler Grausamkeit der Erwachsenen geprägte, verdrängte Episoden aus ihrer Kindheit. Für die Lesenden kristallisiert sich heraus, dass die nach außen hin so unterschiedlich dargestellten Romanfiguren gestörte Mutter-Kind-Beziehungen gemeinsam haben. Die Grundidee des Buches, dass die über Generationen weitergetragene, ursprünglich nationalsozialistische Erziehungsideologie mitverantwortlich ist für die Unmenschlichkeit und Härte der heutigen Leistungsgesellschaft, an der die Romanfiguren teilhaben, aber an der sie auch leiden, wird so weiter verdichtet. Die in den Text eingefügten Erziehungsrichtlinien Haarers, die Marius auf Dateikarten notiert hat, unterstützen diesen Prozess.
Renate Silberer hat mit ihrem ersten Roman einen dichten Text geschrieben, in dem erzähltechnische Mittel gekonnt umgesetzt werden; die häufigen Perspektivwechsel irritieren beim Lesen nicht. Unterhaltsam werden die Missstände der Leistungsgesellschaft aufs Korn genommen, dieses scheinbar leichtfüßige Erzählen wird durch die Bezugnahmen auf die gegen Kinder gerichteten Grausamkeiten jedoch unterlaufen: Diese Textpassagen machen nachhaltig betroffen.
Obwohl der Roman auf einen rasanten Showdown zusteuert, bei dem die Dinge noch einmal gehörig auf den Kopf gestellt werden, ändert sich an der Weltsicht der Romanfiguren scheinbar wenig. Ein Ausweg aus der eigenen starren Existenz wäre für sie in der Sprache zu finden, die es auf dem Weg zu einem fühlenden Ich jedoch neu zu denken gälte. Dies hat die zentrale Romanfigur erkannt; ihr Weg zu sich selbst wird von einem erfundenen Wort begleitet: „Jeder Mensch sollte ein Wort für sich alleine haben, eines, das ihm Halt gibt“, meint Marius Tankwart. Zumindest er hat seines gefunden.