#Roman

Hurenkind

Christine Grän

// Rezension von Anne M. Zauner

Christine Grän, bekannt als Autorin von spannenden Kriminalromanen, die sie mit einer guten Prise Zynismus würzt, hat mit der „Hochstaplerin“ 1999 das Feuilleton der Großformate aufhorchen lassen. Mit ihrem neuen Roman Hurenkind ist sie auf dem besten Weg, es zu erobern. Die zweite Auflage ist aufgrund zahlreicher Vorbestellungen bereits in Druck.
Auch ihr jüngstes Buch trägt unverkennbar Gränsche Züge. Ohne große Gesten und ohne Pathos steuern die Figuren auf eine Lebenskatastrophe zu, ein wenig wie Marionetten in einer traurigen Farce.

Marie Ahrend heißt die Heldin des Buchs. Sie ist ein Hurenkind, im wahrsten Sinn des Wortes, ein Betriebsunfall ihrer Mutter, der am Weihnachtstag unter Schmerzen das Licht der Welt erblickt. Ihr magisches Geburtsdatum hilft der kleinen Marie jedoch keineswegs auf einen gottgefälligen, sanft vom christlichen Licht angestrahlten Lebensweg. Im Gegenteil. Ihre Kindheit ist gezeichnet von Angst und Scham. Die alkoholkranke Hurenmutter, eine Domina, unterhält ein gewisses „Haus in der Gerberstraße“, und die Lustschreie gequälter Sexualität dringen durch die papierdünnen Wände unauslöschlich ins Kinderherz. Eines Tages legt Marie Feuer an das Haus in der Gerberstraße. Es brennt auf die Grundmauern nieder.
Die Vergangenheit stirbt.

Christine Grän bittet die mittlerweile erwachsene Marie Ahrend an die Rampe, ins Scheinwerferlicht. In großen, rasanten Monologblöcken erzählt diese ihr Leben, breitet ohne Ausschmückungen ihre Strategien, Obsessionen und Neurosen aus, schildert in mitleidlosen Worten Vergangenes und Gegenwärtiges.
Marie hat sich vom bitter gehänselten Hurenkind in eine Kunstfigur verwandelt, die sich in jede Hand schmiegt, sofern sie ihrem maßlosen Ehrgeiz nützt. Denn sie lebt für ein einziges ehrgeiziges Ziel. Sie will an die Schalthebeln der Macht.
Non olet. Macht stinkt nicht, und die Dämonen aus der Kindheit müssen verstummen – so rechnet Marie Ahrend in krasser Fehleinschätzung ihrer Kraft.

Christine Grän stellt ihrer großartig schamlosen, neurotischen, lebenshungrigen und ungehemmt egozentrischen Heldin zwei Gegenspieler an die Seite, das Ehepaar Anne und Leon Lenbach.
Auch sie werden von der Autorin vor den Vorhang gebeten und beginnen auf der Stelle in parallelen monolithischen Blöcken aus ihrem Leben zu erzählen, das in alltäglich glücklich-unglücklichen Bahnen läuft, bis sich ihre Wege mit Marie Ahrend kreuzen.
Wieder stirbt eine Vergangenheit.

Aus der hemmungslosen Karrierefrau wird eine rasend Liebende und die Farce kippt in eine Tragödie. Mit der ihr eigenen Rücksichtslosigkeit stürzt sich Marie spät in ihre erste große Liebesleidenschaft namens Leon Lenbach.
Damit bricht für dessen Ehefrau Anne eine Welt des schönen Scheins zusammen. Die einst begabte, vielversprechende Schauspielerin, die ihre Karriere ein wenig aus Angst und ein wenig aus Liebe aufgegeben hat, steht vor dem Scherbenhaufen ihrer kleinen Lebenslüge. Mit vergeblichen Bildern beschwört sie die Magie des einfachen, selbstgenügsamen Familienglücks.
Leon Lenbach bleibt dagegen im Halbschatten. Traumwandlerisch geht er durchs Leben. Sowohl die zäh-romantische Liebe Annes als auch die verzehrende Maries treiben ihn in die Defensive. Vage sehnt er sich nach beiden. Seine große Passion gilt jedoch nicht den Frauen sondern einer Maschine, seinem Flugzeug. Siebzig Jahre nach Antoine de Saint-Exupérys „Nachtflug“ beschwört Leon Lenbach wieder den Mythos vom Fliegen als letztes großes Abenteuer.

Als das Beziehungsdreieck in einer Pattstellung erstarrt, schickt Christine Grän einen Autounfall als Deus ex machina. Die Würfel fallen.
Anne trifft die schwerste Entscheidung ihres Lebens. Vor die Wahl gestellt rettet sie ihr Kind aus dem Wrack und nicht den Ehemann. Leon verbrennt daraufhin im Wagen. Und Marie, … als sie vom tragischen Ende des Geliebten hört, bricht der letzte Schild ihres aus Willensstärke und Disziplin gestrickten Schutzpanzers, Vergangenheit und Gegenwart erheben ihre häßlichen Fratzen. Sie fährt ans Meer und stürzt sich in den Tod.

Mit dem Hurenkind Marie Ahrend ist Christine Grän eine mitreißende, ja hinreißende Figur gelungen. Sie läßt leicht vergessen, daß die Monologsequenzen von Leon und Anne Lenbach streckenweise blaß ausfallen. Das Schlußwort behält sich Marie vor. Es sind die Worte einer Sterbenden:
„Ich habe kein Feuer mehr. Ich bin die Asche, die Leon zurückließ. Deshalb bin ich ans Meer gefahren. Meine Versteinerung, in Landschaft verewigt. Ich bin ganz klein an diesem Punkt der Welt. Und sie war größer als ich. Also setze ich einen Fuß vor den anderen, bis ich sie nicht mehr spüre.“

Christine Grän Hurenkind
Roman.
München: C. Bertelsmann, 2001.
255 S.; geb.
ISBN 3-570-00393-0.

Rezension vom 09.03.2001

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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