Die Erzählung über die Vernichtung dieser Erinnerungsstücke korreliert mit den unausweichlichen Lücken des Erinnerbaren selbst. In Ich erinnere mich verdeutlicht Kappacher dies durch die lose Aneinanderreihung einzelner memorierter Episoden zwischen den 1940ern und den 1980ern. Sie werden großteils eingeleitet mit „Ich erinnere mich“ oder elliptisch mit „Wie ich“, bleiben unverbunden und berichten von Begegnungen, Lektüren und Reisen, von einem leidenschaftlichen Leser und Reisenden, der sich eben auch unprätentiös an den Verlust der Erinnerung erinnert.
Ich erinnere mich widmet sich auch Kappachers schriftstellerischem Werdegang, der darüber hinaus in dem Text Über das Schreiben im Zentrum steht. Er habe sich – so heißt es dort zu Beginn – dem Literaturbetrieb „immer so gut ich konnte entzogen“. Poetologische Überlegungen werden in Über das Gehen entwickelt, wenn die Bewegung gleichsam als unabdingbar für die Entwicklung von Ideen, von Reflexion beschrieben wird: „Im Gehen wird mir eingegeben, so empfinde ich es, durch die körperliche Bewegung entwickelt die Phantasie ein Eigenleben.“
Während Ich erinnere mich – wie ein editorischer Einschub erläutert – „weitgehend in den 1990er-Jahren“ niedergeschrieben wurde, entstanden die anderen Texte später oder wohl erst für den Sammelband. Sie werfen Schlaglichter auf einzelne Erlebnisse, wodurch das fragmentarische Erzählen zum Kompositionsprinzip des Bandes selbst wird. So erzählt Kappacher in Tage in Calw (1997) von seinem dortigen Aufenthalt als Stadtschreiber und memoriert eindrücklich die räumlichen Gegebenheiten: „Eine Stadt im Kopf haben, jederzeit in sie zurückkehren können, im Geist die Räume einer Wohnung durchwandern, im Arbeitszimmer der Calwer Stadtschreiberwohnung aus dem Fenster schauen, hinunter auf die Marktstraße, hinein in die Badstraße, wo die Giebel der alten Fachwerkhäuser sich einander zuneigen.“ Das Erleben Calws wird im Band unmittelbar mit den US-amerikanischen Canyonlands kontrastiert, über die Kappacher im abschließenden Tagebuch zum Land der roten Steine (2004) schreibt.
Eröffnet wird der Band indessen mit einer durchaus klassischen biografischen Wendung – mit dem Vater: Dieser sei „in Mühlbach zur Welt gekommen und aufgewachsen“, heißt es in Hochkönig. Zwiegespalten beschreibt Kappacher sein Verhältnis zu diesem Ort, der trotz allem immer der gewesen sei, den er „in Zeiten, wenn mich Ratslosigkeit niederdrückte“ besucht habe. Im Folgetext Mein Vater rekonstruiert Kappacher die Erinnerung vor allem anhand von Fotografien. Eindrücklich zeigt dieser Text die Distanz zur Vaterfigur. Die Beschreibungen der Fotos dienen nicht einem Versuch der Vergegenwärtigung der erinnerten Figur, sondern vermitteln kurze, distanzierte Momentaufnahmen: „Es fiel mir auf, dass er auf manchen Fotos viel älter aussah, als er war. Auf einer Fotografie hatte er mich am Schoß. Es wird im Frühjahr gewesen sein, im Hintergrund der Eingang ins Volksgartenbad, er trug einen Hut und einen kurzen Mantel und sah eher wie mein Großvater aus.“
Eine Fotografie ist schließlich auch bestimmend für den kurzen Text Eine Verführung. Das Foto, so heißt es dort zu Beginn, zeige den in etwa dreijährigen Kappacher, wie er mit dem Füttern von Hasen beschäftigt sei: „Über mir, auf der Bedeckung der Holzkästen, ein silberfarbenes Modell-Auto, das mir mein Vater geschenkt hatte, eine Horch-Limousine.“ Hier fungiert die Fotografie als Ausgangspunkt für die Erinnerung an die Faszination für Autos und Motorsport, die in einem der bekanntesten Romane Die Werkstatt im Zentrum steht.
Ich erinnere mich und andere Prosa versammelt somit ganz heterogene Texte, die an zentrale Personen, Eindrücke und Reisen erinnern, Kappachers beruflichen Werdegang sowie seine Arbeit als Schriftsteller beleuchten und dabei eben das Fragmentarische dessen in Erinnerung behalten, das überhaupt erinnert werden kann.