Ich bin ihm dankbar dafür, auch weil ich in der Vorbereitung nun viele seiner Bücher noch einmal gelesen habe und immer wieder überrascht worden bin davon. Und diese Art von Überraschung wird für Berufsleser mit zunehmendem Alter immer kostbarer, weil naturgemäß seltener.
Ich kann hier nur andeuten, was ich an Markarts literarischer Weltaneignung so besonders finde, an der Art, wie seine Prosa uns und unserer Alltagsrealität den Spiegel vorhält, wobei man sich diesen Spiegel vielleicht eher als ein komplexes System aus kleinen, beweglich blinkenden, also gehörig irritierenden Spiegelchen vorstellen könnte.
Da ist zunächst seine disziplinierte Phantasie, die dem Sog des Gags stets widersteht und immer genau so viel an Originalität, Schrägheit und Abweichung vom geraden Denkweg zulässt, dass im poetischen Akt Zustandsbilder entstehen, die oft nur en passant gängige Logiken und Realien hinterfragen und Gegenbilder entwerfen, oder doch andeuten wie ein Schattenspiel. Ein Satz kann hier mit kontrollierter Schärfe eine Situation entschlüsseln und die Motive für Verhaltensweisen und Handlungsoptionen wie ein Aha-Erlebnis vor uns hinstellen. In der filmszenenartigen Zug-Entführungsgeschichte am Ende des neuen Romans fürchtet der Erzähler die zunehmende Desorientierung der Entführer, denn nun könnten sie tatsächlich wild um sich schießen, „einfach, weil sie sonst überhaupt keine Vorstellung haben, was sie machen sollen“. Wieviel im Alltag nach dem Schema des Verlegenheitsputzens der Katzen passiert, das kann man in diesem Buch auch nachlesen.
Was in Rezensionen immer wieder angemerkt wird, ist die Tatsache, dass der Plot von Markarts Romanen schwer nachzuerzählen ist und die Figuren oft mit verschiedenen Stimmen sprechen und Identitäten durchlässig werden. Genau damit ist Markart am Puls der Zeit. Diese Prosa kann uns wieder daran erinnern, dass das Prinzip „Und keinem bleibt seine Gestalt“ der Literatur gehört und nicht den Social Games. Literatur hat immer schon den kritischen oder identifikatorischen Nachvollzug von Schicksalen, Charaktermerkmalen, Lebensmodellen und situativen Handlungsoptionen angeboten. Diese Mechanismen sind heute auf Spielfiguren und Ich-Simulationen übergegangen. Jeder kann sich einen oder viele Avatare als multiple Ich-Abspaltungen generieren, sei es bildlich durch Kombination vorgegebener Körpermerkmale oder in Form von Nicknames, die sich beliebig mit realen oder fingierten Identitätspartikeln belegen und ausformen lassen.
Was bei dieser Migration fiktionaler Lebensentwürfe von der Literatur in die Spielebranche übrig bleibt, ist der Plot, was verloren geht, ist das Wie des Erzählens, die Sprache. Und sie gerät auch von einer anderen Seite unter Druck. Das allgegenwärtige Storytelling, das von den dominanten Segmenten Werbung, Journalismus und den unterschiedlichen Textsorten der Eigen-PR aus in alle Bereiche überschwappt, lässt das Vertrauen in die Kraft der Wörter schwinden und fördert die Neigung zum sprachlichen Ausrufezeichen, also zum Pleonasmus. Als Adolf Muschg zur Eröffnung der Buchmesse in Wien 2015 ein Plädoyer für das Lesen hielt, wurde das in der Berichterstattung prompt zum „flammenden“ Plädoyer, als wäre der Begriff, der das leidenschaftliche Moment in sich transportiert, ohne schmückendes Beiwort zu nackt und zu schwach.
Markarts Sprachgefühl hat unter diesem Dauerbeschuss nicht gelitten. Sein neuer Roman ist vielleicht der einzige, zumindest aber einer der ganz ganz wenigen, der in den letzten Jahren erschien, wo Menschen noch Stiegen hinauf gehen – und das tun sie gerade in diesem Buch besonders häufig. Also wo das „hinaufgehen“ noch nicht vom Hochladen der Online-Kultur final überschrieben wurde.
Markarts Sprache, auch das wurde wiederholt gerühmt, sei klar und lapidar. Das stimmt, aber da ist noch etwas anderes. Sie lebt von doppelten Böden, die als Unruheherde im Text lauern. Weil sie meist ganz unauffällig daherkommen, ist man als Leser unvorbereitet und dadurch besonders berührbar. Es ist eine Sprache, die – ohne dass man ständig den Zeigefinger auf der Brust fühlt – mit Unvorhergesehenem konfrontiert und zum Innehalten zwingt.
Seine Prosabände sind meist gut durchstrukturiert, so auch Ich halte mir diesen Brief wie einen Hund, zumindest tragen die einzelnen Abschnitte ordentlich fortlaufende Kapitelzahlen. Hier sind es 71, in den vorangegangen Romanen waren es 41 und 61 – alle drei Primzahlen.
Durchstrukturiert ist das Buch aber vor allem mit poetischen Mitteln. Es sind Techniken der Avantgarde, die Markart verwendet wie im Erzählband Margritte (2012). Im neuen Roman sind es vor allem Themenfelder und Metaphernreihen, die unsere Orientierung im Text steuern, aber auch Um- und Nebenwege eröffnen. Und sie stellen Verbindungen her zu den beiden Romanen Der dunkle Bellaviri (2013) und Calcata (2009) – die zusammen eine wohl ironisch verstandene autobiographische Trilogie bilden wollen.
Dass der Erzähler im neuen Roman zunehmend aus der Realität herausfällt, schreibt das Grundthema von Der dunkle Bellaviri fort, während er schreibend eine Reise zu einem jener geheimnisvollen Orte in Italien erlebt, wie sie im gefundenen Reisetagebuch in Calcata beschrieben werden. Auch kleine, harmlos-psychotische Eigenwilligkeiten tauchen wieder auf, etwa das Haus nie ohne Mantel und immer in der gleichen Richtung verlassen zu müssen.
Solche Motivketten sorgen für Verbindungen und Querachsen. Allen voran der Regen, der ins Katastrophische, also Sintflutartige kippt. Daran binden sich die Metaphern von Ausfahrt und Ankern – auch als Bilder für das Lesen – genauso wie Ausflüge nach Venedig oder ein fantastischer Gewitterregen im Wohnzimmer. Das prinzipielle Flüssigkeitsproblem umfasst auch ein gestörtes Verhältnis zum Trinken, es nicht können, wollen oder sollen. Spätestens beim zweiten Glas Wein „preschen die Metallpferde der Giudecca los“ über den Canale, werden leicht und fliegen davon. Wie kunstvoll das oft gefügt ist, muss man selber nachlesen, etwa im Abschnitt 36, wo der Erzähler seinen imaginären Rivalen Ludwig verdächtigt, sich vom Regen übermalen zu lassen um bei seiner langjährigen Lebensgefährtin Marina zu ankern.
Auf ihrem Schreibtisch findet der Erzähler ein handgeschriebenes Buch mit Erzählungen, eine trägt den Titel „Als ich das Osterfeuer holen ging“, ist also eine Paraphrase auf den steirischen Rosegger-Mythos. „Früher war es üblich, Kinder zu beauftragen, dies und das zu holen, zu erledigen, heute geht das natürlich nicht mehr“, heißt es zu Beginn. Daraus wird eine Groteske aus der gar nicht so lange zurückliegenden Zeit der schwarzen Pädagogik und mit der Figur der Mutter als Kunstköchin auch eine Parodie auf dekadenten Fetischismus für exotische Zutaten.
Diese Geschichte irritiert den Erzähler, auch weil er als Verfasser jenen „schrecklichen Ludwig“ vermutet, der als gewaltbereiter Raufer schon seine Schulzeit verdüstert hat, und sie irritiert ihn wohl auch wegen des Feuers, dem Widerpart des Wassers, das unter dem Schattenbaum sein Wohnzimmer verwüstet und ihn mitten im häuslichen Ambiente ins Schlauchboot fliehen lässt.
Der Brief aber, den sich der Erzähler hält wie der Nachbar seinen Hund, ist ein Abschiedsbrief an Marina. Tagelang liegt er herum, dann steckt er in der Manteltasche, einen Briefkasten wird er nie von innen sehen, obwohl der Erzähler eines Morgens in den Nachbarort aufbricht, um ihn dort einzuwerfen, schließlich kann man nicht vorsichtig genug sein, seit sich „die Situation der Bahnhöfe … wie die Situation der Briefkästen und Postämter in den letzten Jahren“ dramatisch verändert hat. Auch das ist ein durchgehender Subtext: die Überforderung der Menschen durch die rasanten und rücksichtslosen Modernisierungs-, Privatisierungs- und Ökonomisierungsprozesse.
Damit der Brief seine Adressatin trotzdem nicht erreicht, wird im Gedankenkosmos des Erzählers schweres Geschütz aufgefahren. Bewaffnete Verbrecher entführen den Zug quer durch den Kontinent irgendwo ins Eurasische hin, wo bestimmt kein funktionstüchtiger Postkasten zu finden ist. Auch wenn die Szene am Ende zurückkippt in den Alltag einer Straßenbahnfahrt mit schemenhaft erinnerten Besorgungen, die anstehen.
Diese Besorgungen aber sind die letzte Bild-Klammer des Buches: Es geht um Rosmarin, den beherrschenden Duft der italienischen Reiseabenteuer, und es geht um rote Tinte, mit ihr pflegt der Erzähler-Autor seine fertigen Texte zu beschriften.
Die Freiheit der Literatur, logische Grenzen nicht akzeptieren zu müssen und Traumhaftes zuzulassen, auch wenn nicht Traumprotokoll darübersteht, das hat Markart schon in vielen Büchern zu nutzen verstanden, nicht zuletzt in Dillingers Fluchtplan oder Karajan umzubringen war mir ein Bedürfnis (2008). Immer aber entsteht als Relief seiner Literatur ein Geflecht aus Protokollen über unsere Befindlichkeit und unsere Zeit, das obendrein noch amüsant zu lesen ist.