Im Bereich der Psychologie und Psychiatrie anerkennt man längst die These der Anthropologie, daß psychische Krankheiten in einem gewissen Sinne auch kulturelle Produkte sind. Bekommt ein Phänomen einen Namen, dann finden sich auch die Menschen, die daran leiden. Nicht, daß dieses Leiden nun etwas Vorgetäuschtes, real nicht Vorhandenes wäre. Es war nur eben davor kaum mitteilbar, ein individuelles Problem, nicht als von allgemeiner und gesellschaftlicher Bedeutung anerkannt. Erst die Benennung schafft Anerkennung und damit auch die Voraussetzung für eine Behandlung und eine eventuelle Heilung.
Was hat das nun mit den Erinnerungen der 1930 in Wien geborenen Martha Blend zu tun, die 1995 in der Reihe „Library of Holocaust Testimonies“ des Londoner Verlages Vallentine Mitchell & Co. („A child alone“) erschienen sind und diesen Herbst in deutscher Sprache im Wiener Picus-Verlag („Ich kam als Kind“) herauskommen?
Für Martha Blend, 1930 als Martha Immerdauer in Wien geboren und 1939 im Rahmen der „Kindertransporte“ nach London emigriert, wo sie heute noch lebt, war die Arbeit an ihrem Erinnern ein großes und langwieriges Unternehmen – und über viele Jahre ein einsames. Mit einem „fest versperrten Schrank“ vergleicht sie, was ihre Vergangenheit jahrzehntelang für sie gewesen ist: ihre Kindheit als einziges Kind einer jüdischen, wenn auch nicht mehr streng observanten Familie im Wien der 30er Jahre, der „Anschluß“ 1938 und der damit verbundene Einbruch von Politik und Gewalt in ihr bis dahin behütetes Kinderleben, ihre Emigration im Rahmen der „Kindertransporte“ nach London und somit ihre Rettung, die damit verbundene Trennung von den Eltern, die in den Vernichtungslagern ermordet wurden, und ihre Schuldgefühle, die trotz aller Bemühungen, sie zu unterdrücken, immer wieder hochgestiegen sind.
Die Vergangenheit als ein „fest versperrter Schrank“: weil Martha ihre ganze Energie für das Weitermachen und den Aufbau ihres eigenen Lebens brauchte und damit keine Kraft blieb für ein schmerzhaftes sich Beschäftigen mit dem Vergangenen; ein „fest versperrter Schrank“ aber auch, weil niemand wirklich danach gefragt hat, was sich hinter diesem Schweigen verbirgt. Ihre Umgebung in England – ihre jüdischen Pflegeeltern genauso wie ihre nichtjüdischen Schulkameraden, Lehrer, später ihre Kommilitonen auf der Universität und ihre Nachbarschaft – hatte dieses Schweigen akzeptiert: „entweder aus Takt oder aus Mangel an Interesse“, wie sie diesen Punkt in ihren Erinnerungen lakonisch beschließt.
Immer deutlicher hatten ab den 80er Jahren die ehemaligen Flüchtlinge, die der Verfolgung durch die Nationalsozialisten nach Großbritannien entkommen konnten, ihr Bedürfnis geäußert, mit ihrem Schicksal und dem, was sich hinter der – in vielen Fällen – erfolgreich verlaufenen Integration verbirgt, wahrgenommen zu werden und davon erzählen zu können. Das traf sich mit der wachsenden selbstkritischen Einsicht, daß auch die britische Gesellschaft sich über viele Jahrzehnte nicht wirklich mit dem Holocaust beschäftigt hatte, schon gar nicht mit den Menschen, die ihm zwar knapp entkommen waren, deren ganzes Leben aber im Schatten dieses einen Ereignisses verlief. Es gab keinen Rahmen für das Gedächtnis dieser Gruppe der englischen Gesellschaft, der diese Erinnerung zu einer öffentlichen und gesamt-gesellschaftlich relevanten gemacht hätte. Das hat sich mittlerweile wesentlich verändert. Heute dokumentiert nicht nur eine neue sozialgeschichtlich orientierte Ausstellung des Jüdischen Museums London im Sternberg Center im Norden der Stadt anhand einzelner Schicksale die Geschichte dieser Menschen, auch das national bedeutende Imperial War Museum in London richtet derzeit eine im Jahr 2000 zu eröffnende Abteilung ein, die sich mit dem Holocaust und auch dem Schicksal der nach England Emigrierten beschäftigen wird.
Martha Blends Erinnerungen fanden ihren Platz in der Reihe „Library of Holocaust Testimonies“, vom Yad Vashem Committee of the Board of Deputies of British Jews und dem Centre for Holocaust Studies der University of Leicester herausgegeben, um Zeitzeugen zur Dokumentation ihrer Erinnerungen zu bewegen und diesen auch ein öffentliches Forum bieten zu können. Diese Veränderungen innerhalb der britischen Gesellschaft waren entscheidend dafür, daß aus der individuellen Suche Martha Blends nach ihrer Vergangenheit Erinnerungsliteratur werden konnte: ein Stück Verarbeitung und Bewältigung für sie selbst; ein Stück Erkenntnis, was das für Menschen bedeutet hat, was wir mit den abstrakten Begriffen „Holocaust“ oder „Shoa“ zu begreifen versuchen, für diejenigen, an die sich Martha Blend mit ihren Erinnerungen wendet.