Wie schon in „Der einzige Ort“ stehen zwei miteinander verschränkte Figuren im Zentrum, und zwar die in einer Wohnung am Karmelitermarkt lebende Emilia und ihre Tochter Dora Degen. Emilia arbeitet als freie Schriftstellerin und Universitätslektorin, Dora studiert, geht jedoch zum Zeitpunkt ihres Rigorosums ins Café – und verbleibt, obwohl sie später doch promoviert, am Ort ihrer Kindheit und Jugend, beginnt sich in einem Zwischenraum und einer Zwischenzeit zu verlieren. Über den Vater wird kaum etwas mitgeteilt, er ist durch seine Abwesenheit anwesend. Mutter und Tochter leben auf engem Raum, aber „nebeneinanderher, frühstücken jede für sich, gehen (wie in zwei übereinandergelegten Wohnungen, Folien von Wohnungen, aber doch im Bewußtsein, daß die andere Ebene immer da ist) einander fast aus dem Weg“ (S.106). Das ändert sich auch nicht, als Dora an Multipler Sklerose erkrankt. Die gedanklichen Annäherungen aneinander finden keinen Weg nach außen, Dora tut oder sagt während ihres langsamen Sterbens nichts, was die Distanz zur Mutter verringern könnte, und Emilia liebt ihre Tochter „ohne jede Hoffnung, ohne jeden Zugang, ohne jede Macht, ins Nichts hinein.“ (S.169)
Stangls bereits in seinem Erstling erprobte Erzählstrategie ist es, die Differenzen zwischen diesen beiden Leben, zwischen ihrer Gegenwart und ihrer Vergangenheit, zwischen Raum und Zeit poetisch aufzuheben, denn „Mutter und Tocher sind spielerisch ineinander übergegangen“ (S.155). So gleitet die Erzählperspektive beständig von einer Figur zur anderen und wieder zurück, ebenso changiert sie zwischen den zeitlichen Ebenen. Diese literarische Auflösung des Subjektes und das ständige Ineinanderschieben zeitlicher und räumlicher Ebenen setzt der Autor dezent in Bezug zu poststrukturalistischen Theorien, nicht zufällig ist das Einleitungszitat des fünften Kapitels einem Aufsatz des amerikanischen Dekonstruktivisten Paul de Man entnommen. Die aus Stangls Methode erwachsende Komplexität fordert einen genauen und aufmerksamen Leser, der bereit ist, Schritt für Schritt die verstreuten Hinweise und scheinbar bezugslosen Versatzstücke im Kopf zusammenzufügen. Ein solcher Leser wird allerdings im Zuge der Lektüre immer mehr von Stangls eindringlicher und präziser Prosa gefangen genommen werden, wird sich von der eigenwilligen Dynamik des Textes mitreißen lassen.
Im programmatischen erzählerischen Gleiten zwischen und durch Objekte und Subjekte, Topographien, Figuren, Körper, Psychen, Emotionen und Erinnerungsräume konstituiert sich im Laufe des Romans und vor allem in den Passagen zu Doras Krankheit ein System von Beklemmungen, von Angst und Unruhe, das nur manchmal von einer aus dem Innen (oder doch dem Außen?) kommenden Melodie, von „ihrer Musik“ kurz durchbrochen werden kann: „Woher kommt die Melodie, woher kommen die Worte, doch nicht aus ihrem Bewußtsein, sie weiß doch, daß nichts zu sagen ist, aber sie liebt diesen Moment, sie fühlt ein Glück wie sie es noch nicht gekannt hat, vor diesen Tönen ins Nichts hinein, in die Momente der Gegenwart“ (S.181).
Ihre Musik hat nicht das Epische, Spannende, faszinierend Neue des Vorgängerromans „Der einzige Ort“, vielleicht hat dem Autor diesmal der strukturierende, die Handlung vorgebende Stoff etwas gefehlt. Trotzdem funktionieren Stangls literarische Raumkonstruktionen in Wien ebenso wie in Afrika und seine Technik des Heranscheibens an und Einschreibens in Figuren scheint in manchen Nuancen noch ausgeklügelter geworden zu sein. Kein so großer Wurf also wie der Erstling, aber ein Beleg für die Fähigkeiten eines Autors, von dem noch viel zu erwarten ist.