#Sachbuch

Ilse Aichinger: "Behutsam kämpfen"

Irene Fußl, Christa Gürtler (Hg.)

// Rezension von Bernhard Oberreither

Die ‚behutsame‘ Widerständigkeit von Ilse Aichingers Schreiben gegen seine InterpretInnen ist ein vielbeklagter Topos in der wissenschaftlichen Landschaft. Schon in seinem Leben und Werk-Band von 1990 konstatiert Samuel Moser, dass Aichinger trotz unbestrittener Bedeutung die „große Außenseiterin der deutschen Literatur“ sei, dass sie weder einer Schule angehöre noch Themen habe (sondern „nur eine Sprache“) und dass Einordnungsversuche bloß etwas über die Bedürfnisse der Einordnenden verraten würden. Noch im Vorwort zu ihrem elf Jahre später erschienenen Band was wir einsetzen können, ist nüchternheit spekulieren Barbara Thums und Britta Herrmann über die Gründe der auch zu diesem Zeitpunkt überschaubaren Forschungslage: Aichingers Texte seien nicht parabolisch oder allegorisch aufzulösen, zu sprachreflexiv für das, was landläufig unter engagierter Literatur verstanden wird, zu gesellschaftskritisch, um ‚bloß‘ sprachkritisch gelesen werden zu können; auch feministischen Lektüren würden sie sich verweigern.

So kommt es, dass die Bibliothekskataloge zu beispielsweise Ingeborg Bachmann ein Vielfaches von dem liefern, was eine Suche nach Aichinger ergibt. Der erste Tagungsband zu ihrem Werk erschien erst 1999, viele Arbeiten legen zudem angesichts der umrissenen Problematik den Schwerpunkt noch auf den biographischen Kontext, wie Herrmann/Thums feststellen. Erst jetzt – und damit verhältnismäßig spät – wird die Literatur zu Aichinger langsam unüberschaubar.

Hier lassen sich also vielleicht noch Lücken in der Veröffentlichungslandschaft füllen, hier bietet sich aber auch die Möglichkeit, die breiten, germanistischen Pfade zu verlassen und aus anderer Perspektive oft erhellende Einwürfe zu machen. Beides unternimmt der von Irene Fußl und Christa Gürtler herausgegebenen Tagungsband Ilse Aichinger: „Behutsam kämpfen“. Die Herausgeberinnen versammeln darin germanistische Beiträge (auch diese manchmal in ungewohntem Register) ebenso wie Kommentare von Übersetzerinnen und Übersetzern und lyrische Fortschreibungen von Aichinger-Worten. Die germanistische Perspektive wiederum wird oft in Richtung des Archivs erweitert durch den seit 2006 in Marbach liegenden Vorlass; für die Beiträge der Übersetzer gewährte Mirjam Eich (Aichingers Tochter) Einblick in die Privatbibliothek der Autorin.

Gleich mehrere Beiträge des Bandes betrachten – eine gerade bei Aichinger verlockende Perspektive – das Frühwerk durch die Linse des Spätwerks: Dagmar C.G. Lorenz behandelt Aichingers Großmutter-Figur, deren Verkörperung in Die größere Hoffnung (1948) in späteren Texten ab Kleist, Moos, Fasane (1996) mehrere Gegenbilder findet. Barbara Thums nimmt die Unglaubwürdigen Reisen (2005) zum Anlass, solche Reisen auch im früheren Werk zu suchen: „Unglaubwürdig nämlich sind die Reisen, weil sie ins Zwischenreich von Fakt und Fiktion, von historisch Verbürgtem und imaginär Vorgestelltem führen und weil potentiell alles mit allem in Verbindung treten kann“ (S. 39). So lassen sich auch Der Schrankenwärter oder Das Milchmädchen von St. Louis (1965) als ‚unglaubwürdige Reisen‘ lesen, während spätere ‚Reisen‘ (wie z. B. Eine Zigarre mit Churchill, 2001) gleichsam das historische Material nachreichen. Gemeinsam konstituieren die Texte aus verschiedenen Werkphasen einen „prinzipiell unabschließbaren Erinnerungstext“ (S. 51). Joanna Dryndas Beitrag wiederum verfolgt die „intermediale Konstante“ (S. 67) des Kinos durch das Werk der Autorin: Vor dem Hintergrund einer Analyse Peter Beickens zur Spiegelgeschichte (2009) macht sie vor allem in Aichingers frühen Texten zentrale Kino-Metaphern (Tür, Fenster, Spiegel) fest und eröffnet damit ein vielversprechendes Untersuchungsgebiet.

Korrespondenzen nicht innerhalb von Aichingers Texten, sondern zwischen Aichinger und anderen Autorinnen und Autoren fassen die Beiträge von Hannah Markus und Neva Šlibar ins Auge. Markus forscht den ‚Maulwürfen‘ nach, einer privaten Gattungsbezeichnung für kurze Prosagedichte, die aus der ‚Familiensprache‘ von Aichinger und Günter Eich stammt, und sammelt auf allen Textebenen Gemeinsamkeiten zwischen den ‚Maulwürfen‘ der beiden Schreibenden. Šlibar liest – ausgehend von der Thematik des Sterbens und anhand unveröffentlichter Archivfunde ebenso wie früher, entlegener Zeitungsveröffentlichungen – Aichinger und Bachmann vor der Folie der jeweils anderen und stellt einer spannungsreichen persönlichen Beziehung eine ebensolche literarische zur Seite.

Zu den thesenstärksten Texten des Bandes zählen wohl die Beiträge von Françoise Rétif und Christoph Leitgeb. In einer überzeugenden und genauen Lektüre der Schattenspiele und der Subtexte spezifiziert Rétif das Verhältnis Aichingers zu Emil Cioran: Hinsichtlich der zahlreichen Cioran-Zitate in Aichingers Texten kann nicht – wie schon geschehen – so sehr von ‚Einfluss‘ die Rede sein. Vielmehr weist Rétif nach, wie Aichinger die Texte Ciorans (der ja angesichts seiner frühen Begeisterung für die NS-Ideologie problematisch ist) durch Neukontextualisierung unterwandert und demontiert.

Christoph Leitgeb exemplifiziert vor allem an der Kurzprosa Die Maus aus Eliza Eliza deutliche Parallelen zu psychoanalytischen Erklärungsmodellen der Angst – als ein zerstörerisches Eindringen des Realen ins imaginäre Selbstbild. Aichingers Prosa, stellt Leitgeb (u.a. durch einen schönen Vergleich mit Kafkas Der Bau) fest, setzt nicht auf eine Beseitigung der Angst durch die Reinstallierung des Imaginären, stattdessen auf eine Strategie der Unsichtbarkeit, mittels derer sich das Ich sprachlicher wie gesellschaftlicher Normierung entzieht.

Als produktive Ergänzung zu diesen Beiträgen liefert der Band Perspektiven abseits konventioneller literaturwissenschaftlicher Denkwege. Roland Berbig belegt mit seinem einleitenden Text, dass man von Aichinger-Lektüren oft mit dem Bedürfnis nach anderen als den hergebrachten wissenschaftlichen Textsorten zurückkehrt. Eine ‚Archivreise‘ eröffnet ihm die Möglichkeit, „sich im Gedruckten umzusehen ohne Druck“ (S. 26), macht das Archiv als „Gegenwerk“ lesbar, beschwört mitunter (nicht als einziger Text des Bandes) die Biographie der Autorin. Mit dem Beitrag von Anne Betten und Ute Fellner bietet der Band eine linguistische Perspektive auf die ‚entfremdete Sprache‘ in Aichingers Die größere Hoffnung; die Schriftstellerin Margret Kreidl spinnt Aichinger-Sätze literarisch fort, Brita Steinwendter erinnert sich an die Produktion ihres 1991 erstmals ausgestrahlten Filmportraits zur Autorin. Doris Moser beobachtet angesichts Simone Fässlers Aichinger-Interviewband Es muss gar nichts bleiben (2011) die latente Widerständigkeit der Autorin in der Interviewsituation und das über die Jahre erkennbare langsame Aufbrechen dieser anfangs starren Textsorte hin zum Gespräch; Moser zählt diese Interviews – selten so einleuchtend wie im Falle Aichingers – nicht nur zur poetologischen Selbstauskunft, sondern auch zum literarischen Werk der Autorin.

Von großem Wert für jede (auch die germanistische) Lektüre sind die Beiträge der ÜbersetzerInnen: Uljana Wolf beispielsweise, die (zusammen mit dem amerikanischen Lyriker Christian Hawkeye) an der Übertragung von Aichingers Kurzprosa ins Englische arbeitet, spürt der Widerständigkeit einzelner Wörter, Fremdwörter und Eigennamen nach, in denen (und bei deren Übersetzung) sich Fremdheit und Fremdsprachigkeit in einer „Doppelhelix heiteren Abhandenkommens“ (S. 121) zeigen. Wolfgang Görtschacher und David Malcolm demonstrieren an der exemplarischen Übersetzung von vier Gedichen aus Verschenkter Rat nicht nur, welche sprachlichen, kulturellen und literaturhistorischen Hintergründe bei der Übersetzung in Betracht zu ziehen sind, sondern damit gleichzeitig auch, wie aus der permanenten Notlage des Übersetzens eine Lektüre von großer Reichhaltigkeit erwächst.

So zeigt Irene Fußls und Christa Gürtlers Band aus zahlreichen Perspektiven, wie man der Widerständigkeit einer Autorin gegen ihre InterpretInnen produktiv begegnen kann. Es ist nicht zuletzt diese methodische Durchmischung, die den Band lesenswert macht und vor allem – das ist im Falle von Sekundärliteratur keineswegs selbstverständlich – anregt zu eigenen, intensiven und behutsamen Aichinger-Lektüren.

Irene Fußl, Christa Gürtler (Hg.) Ilse Aichinger: „Behutsam kämpfen“
Tagungsband.
Würzburg: Königshausen & Neumann, 2013.
216 S.: geb.
ISBN 978-3-8260-5028-2.

Rezension vom 13.02.2014

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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