Der Titel Im Alphabet der Häuser verweist darauf, dass die Stadt in gewisser Weise als raum-zeitliches Zeichensystem, als Alphabet, das aus Häusern besteht, gelesen werden kann. Dieses sich in einem unendlichen Signifikationsprozess befindende Zeichensystem nun mit einem anderen Zeichensystem, dem Roman, zu ergründen, ist eine komplexe und interessante Grundüberlegung. Obwohl spätestens seit Hayden White bekannt ist, dass auch historiographische Arbeiten als Fiktionen verstanden werden müssen und eine strikte Trennung von Literatur und Geschichtsschreibung unmöglich ist, stellt sich in Anbetracht der geltenden unterschiedlichen Regelwerke als entscheidende Frage in Bezug auf Bauers Text: Was leistet sein Roman, was eine geschichtswissenschaftliche Arbeit nicht leisten kann? Die Antwort auf diese Frage sollte von den literarischen Grundkategorien Form und Inhalt ihren Ausgang nehmen.
Bauers Roman ist ein Roman in Dialogform, worauf im Text auch explizit angespielt wird: „Viele der großen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts verfassen Geschichte in Romanform, fabulieren, schmücken aus. Das machen frühere Autorengenerationen genauso, doch sie wählen, um sich einem Sachverhalt anzunähern, mitunter eine andere Form, denk an Petrarca, Augustinus, die antiken Autoren, sie setzen auf den Dialog. Nicht, dass darin die Wahrheit fröhliche Urständ feierte, aber -“ (S. 167). Der Satz wird nicht zu Ende geführt und eine tatsächliche Erklärung bleibt aus. Die Dialoge sind in eine kaum akzentuierte, im Keller einer Innsbrucker Bar situierte Basiserzählung eingebettet, die aus dem Gespräch eines historisch sehr versierten, aus vielerlei Quellen zitierenden Antwortgebers mit einem als Stichwortgeber fungierenden Fragesteller besteht: „Die Stadt brauchte Maurer in jener Zeit. – Maurer?“ (S. 22) Um wen es sich bei den beiden Dialogpartnern handelt, wer also wem die Häuser-Geschichte Innsbrucks erzählt, lässt sich nur aus der kurzen und obskuren Expositio erschließen. Am wahrscheinlichsten ist, dass es sich bei dem Dialog um ein inneres Zwiegespräch, möglicherweise in alkoholisiertem Zustand, handelt: „Seine Sätze in mir, ich ertappte mich dabei, dass ich sie vor mich hin flüsterte, die Geschichte nimmt hier ihren Anfang -“ (S. 11). Das an einen statischen Ort, den Keller der Bar, gebundene Hineinimaginieren in die Stadt eröffnet kaum Möglichkeiten einer Verknüpfung der Basiserzählung mit den Rückblenden und einer den Roman tragenden Plotebene. Eine topologische Erschließung der Hausnarrative über einen Gang durch die Stadt, über eine körperliche Bewegung durch das „Alphabet der Häuser“ und in die einzelnen Buchstaben hinein hätte vielleicht spannendere erzählerische Optionen geboten und möglicherweise einen Blickwinkel konstituiert, der die These des Romans, „Häuser sind Bücher und Bücher Zeitmaschinen“ (S. 21), tatsächlich bestätigt hätte.
Erscheint also Im Alphabet der Häuser formal wenig geglückt, so ist doch die inhaltliche Ebene in Bezug auf die Auseinandersetzung mit der Stadtgeschichte Innsbrucks durchaus interessant. Das ausführliche Quellenverzeichnis ist Beleg für den Ehrgeiz des Autors, Häuser als Zugänge zu Geschichtsnarrativen zu bestimmen, die den hegemonialen Erzählungen des kulturellen Gedächtnisses entgegenlaufen, und mit dieser Methode „die Geschichte gegen den Strich zu bürsten“ (Walter Benjamin). Besonders gelungen wirken jene Passagen, die sich mit den Lebensumständen der jüdischen Bevölkerung Innsbrucks beschäftigen. Die Ausführungen zum mittelalterlichen Antisemitismus und seiner Imagologie – „Ein ABC abgrundtiefster Ungeheuerlichkeit“ (S. 115) – stehen am Anfang einer präzise nachgezeichneten Traditionslinie, die bis zu den so genannten „Arisierungen“ der Nationalsozialisten reicht. Und gerade an den „Arisierungen“ zeigt sich die Sinnhaftigkeit von Bauers Ansatz. In der systematischen Aufarbeitung der enteigneten Wohnungen und der damit verknüpften Lebensgeschichten wird das „Alphabet der Häuser“ als „Alphabet des Grauens“ (S. 274) lesbar und: „Dieses Alphabet gibt keine Ruh“ (S. 275). Die Genauigkeit und Ernsthaftigkeit, mit der sich Christoph W. Bauer dieses Themas angenommen hat ist ihm hoch anzurechnen, und es ist zu hoffen, dass der Roman mit einer breiteren Rezeption rechnen kann als wissenschaftliche Arbeiten, die sich ähnlichen Problemstellungen widmen.
Abschließend ist noch zu sagen, dass es für die Lektüre von Im Alphabet der Häuser doch vorteilhaft ist, wenn man die Stadt Innsbruck kennt beziehungsweise kennen lernen will. Zwar heißt es im Text, dass „die Wahl der Stadt keine Rolle spielt, Häuser gibt es schließlich überall“ (S. 22), jedoch verweist das eher auf den prinzipiellen Ansatz des Romans und weniger auf das offensichtlich große Interesse am Fallbeispiel.
Wegen der informativen und kompromisslosen Aufarbeitung der Stadtgeschichte ist nämlich Christoph W. Bauers Roman – trotz der Bedenken bezüglich der ästhetischen Qualität – allen Innsbruck-Reisenden und Einheimischen sowie jenen, die entweder das eine oder das andere noch werden wollen, sehr zu empfehlen.