#Sachbuch

"Im Hauptquartier des Lärms"

Alena Wagnerová

// Rezension von Evelyne Polt-Heinzl, Christine Schmidjell

Von Kafkas Stellung und Befinden innerhalb seiner Familie hat der Leser seiner Erzählungen ein ziemlich konkretes Bild: ein autoritärer, übermächtiger Vater, eine eher unscheinbare Mutter, die verständnisvolle Schwester Ottla …

Alena Wagnerovás Studie „Im Hauptquartier des Lärms.“ Die Familie Kafka aus Prag rückt einiges daran zurecht. Mit viel Verständnis für die individuelle Lebensproblematik jeder der Figuren entwirft sie – weitgehend unter Ausschluß von Kafkas literarischen Verarbeitungen der Familiensituation – ein völlig neues Bild.

Da ist die emotionelle Hilflosigkeit des Vaters, der aus dem böhmischen Dorfjudentum stammt, mit Hilfe von Verwandten in Prag mit einem Geschäft für „Zwirn, Baumwolle und Galanteriewaren“ ökonomisch reüssiert und Zeit seines Lebens seiner Familie gegenüber eine überraschende Großzügigkeit in Sachen Geld an den Tag legt. Selbst bei Kafkas kostspieligen Sanatoriumsaufenthalten ist praktisch nie die Rede von Geld.

Treu ergeben steht Vater Hermann mehr neben als über seiner Frau Julie, geb. Löwy, die ihm sowohl standesmäßig als auch menschlich überlegen ist und den liebenden Mittelpunkt der Familie bildet. Und auch die Schwestern Gabriele (Elli), Valerie (Valli) und Ottilie (Ottla) – in Kafkas Diktion nicht selten zum Bild „die Schwestern“ verschmolzen – erhalten in Wagnerovás Darstellung alle drei individuelle Züge. Eine besondere Ironie des Schicksals, daß sich ihre Leben in ihrem grausamen Ende – alle drei kommen im Konzentrationslager um – tragisch synchronisieren.

Was dieser neue Blick auf Kafkas Familienleben leistet, ist keineswegs eine Relativierung seines individuellen Leidens an der Familie, vielmehr eine Korrektur der Wertigkeit dieses Leidens. Kafkas subjektive Perspektive ist nicht mit der Perspektive und dem Erleben seiner Eltern und Schwestern zu verrechnen. Wagnerovás Zurückhaltung bei Interpretation und Entschlüsselung des literarischen Oeuvres in Bezug auf die familiären Ereignisse wirkt angenehm dezent, wirft bei genauer Lektüre im Einzelfall aber sehr wohl Blicklichter auf mögliche Hintergründe.

Ein Beispiel dafür stellt die Episode von Kafkas Mitarbeit in der von seinem Schwager Karl Hermann (verheiratet mit der ältesten Schwester Elli) im Spätsommer 1911 gegründeten „Prager Asbestwerke Hermann und Co“ dar. Die scharfe Kritik der Familie an Kafkas Verhalten, diesmal auch von seiner Schwester Ottla geteilt, gipfelt im Frühjahr 1912 in heftigen Auseinandersetzungen über Kafkas mangelndes Engagement und fehlende Rücksicht auf „Vaters Herz“.

In der Nacht vom 22. auf 23. September 1912 „findet der Leidensdruck, unter dem Kafka schon seit einigen Monaten steht, seinen Niederschlag in der Erzählung Das Urteil (S. 130f). Genauso ist diese Affäre aber auch als Folie für die im Herbst des gleichen Jahres niedergeschriebene Erzählung Die Verwandlung lesbar.

Alena Wagnerová „Im Hauptquartier des Lärms.“ Die Familie Kafka aus Prag.
Mannheim: Bollmann, 1997.
217 Seiten, gebunden, mit Abbildungen.
ISBN 3-927901-91-1.

Rezension vom 21.11.1997

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

Informiert
bleiben

Sie können 3 Newsletter abonnieren:

  • Literaturhaus Wien News
  • Literaturhaus Wien Veranstaltungsprogramm
  • Österreichische Exilbibliothek News

Bitte schicken Sie uns eine entsprechende Nachricht mit dem Betreff „Newsletter bestellen“. Für Abbestellungen bitte im Betreff „Newsletter abbestellen“ schreiben.