Simon Limone, der Ich-Erzähler des Romans, reist von Wien nach Taiwan, und erzählt von dort aus dem Inneren seiner Familie. Er beginnt damit, sich in der Distanz, „weit oben“, einzurichten, um auf seinen Stammbaum hinabzublicken. Von dort will er einen Halt finden, „Bericht erstatten“ und seine eigene Existenz durchleuchten (S. 5). Spürbar wird der Ich-Erzähler in seinem Innehalten, seiner Selbstreflexion – „Ach, da bin ich ja wieder!“ –, in der er sich aus dem erzählenden Text nimmt und Fragen an die Pfütze, und damit an sich selbst, an den Text stellt, etwa: „Und was ist mit den Ehen väterlicherseits?“ (S. 33)
Inhaltlich beschreibt der Roman die Biografien der Familienmitglieder, allen voran jene der Mutter des Ich-Erzählers, die als junge Frau Taiwan zugunsten eines Musik-Studiums – und einer größeren Freiheit – in Richtung Wien verlassen hat. Dort verliebt sie sich in einen österreichischen Mitstudenten und bekommt mit ihm zwei Kinder. Den Herkünften der Eltern, aber auch jenen von Onkeln, Tanten, Cousinen und Cousins, Großeltern und Urgroßeltern wird nachgespürt. Der Autor schildert diese mittels Alltagsschilderungen aus Häusern und Wohnungen in Taiwan und Wien, gibt nicht nur Einblick in unterschiedliche Wohnformen, sondern auch in soziale Gefüge und innere Lebenswelten. Die Verortung des Ichs findet gleich einer Rückkoppelung auch durch Telefonate mit seiner Schwester statt, die in Wien geblieben ist – manchmal nimmt die Erzählperspektive auch jene der Geschwister ein und wird zu einem „wir“.
Alltag und Aberglaube
Der Autor, 1990 geboren, hat selbst taiwanesische Wurzeln, beschreibt gekonnt und authentisch die Unterschiede und Parallelen zwischen Taiwan und Österreich, in deren Spannungsfeld sich auch sein Protagonist bewegt.
So schildert der Erzähler seinen Vater „als Augustlöwe, als Feuerhahn“ (S. 64), in Anspielung an westliche und asiatische Astrologie oder die Schuluniform, die die Mutter als Kind tragen musste, in der ein Taschentuch gegen den allgegenwärtigen Schweiß – ausgelöst durch das fernöstliche Klima – nicht fehlen durfte (S. 64).
Er beschreibt Rituale und schafft damit kulturelles Verständnis – beispielsweise dass in Taiwan besser gestellte Kinder Pflaumensaft in die Schule mitbekommen (S. 46) oder dass man häufig Oolong-Tee trinkt – auch dann, wenn die benachbarte Schwägerin wieder einmal beruhigt werden soll (S. 15), oder dass die Namen von Neugeborenen mittels Numerologie berechnet werden, damit sie – zusammen mit dem Nachnamen – möglichst glücksbringend sind. Auch der Aberglaube der Menschen Taiwans, das im Roman oft Formosa genannt wird, findet Raum – so erzählt eine poetische Passage von einem Kampferbaum, der je nach Glauben der Person entweder Glück oder Pech bringt, und deshalb abgeholzt werden soll – oder eben nicht (S. 142f.). So lange die Fische im Aquarium des Restaurants schwimmen, kommen auch Gäste.
Brainless spannt den Bogen weiter, von Ritualen und Alltag wechselt er leichtfüßig zu weltumfassenderen Themen wie der taiwanesischen Covid-Politik (S. 160) oder dem Verhalten von örtlichen Staatsmännern (S.163), auch die bewegte Geschichte der Insel findet ihren Platz: 1971 hatte Taiwan (auch: Republik China) seinen Platz in der UN-Generalversammlung an die Volksrepublik China verloren, die ab dann als einzig rechtmäßige Vertretung des chinesischen Volkes galt.
Die großen Themen werden in den kleinen Welten der Figuren verankert, und zwar durchaus mit Humor, etwa in der Figur des Großvaters Yéyé, der immer wieder aus undurchsichtigen Gründen nach Vietnam reist, aber vorgibt, dort nur Mandarin zu unterrichten. Auch die sehr konkreten Unterschiede der Lebensrealitäten werden gezeigt; so ereignet sich ein Erdbeben und der Ich-Erzähler muss sich mit Kanistern um Trinkwasser anstellen. (S. 166)
Stellenweise gelingt Brainless eine wundervolle Psychologisierung der Figuren, etwa in jener des Rudolph, eines Onkels des Ich-Erzählers. Der Autor beschreibt detailliert über einige Absätze das Haus des Onkels, der ein Messie ist – den tragischen Grund dafür hat man bereits zuvor erfahren (S. 93) und schafft so Betroffenheit bei den Leser:innen.
Besonders raumeinnehmend sind im Roman Urgroßvater und Urgroßmutter – Männlich-Atsóo und Weiblich-Atsóo genannt – sowie die taiwanesischen Großeltern Ama und Yéyé. Der Ich-Erzähler geht mit manchen der Figuren hart ins Gericht, vor allem mit seinen Großvätern. Ab und an wird die Menge der Figuren verwirrend, es gibt allerhand Onkeln, Tanten und Cousinen, und vor allem viele neue Ehefrauen.
Simon Limone sucht eine Identität in den Geschichten seiner Familie, und es scheint, als würde er in all dieser Vielfalt nicht fündig – doch liegt vielleicht in diesem Unauffindbaren, in dieser Unsicherheit, in diesem Oszillieren zwischen den Welten, die Möglichkeit eines Anlehnens, eines Halts.
Am Ende des Romans wechselt die Perspektive und Brainless lässt das Haus in Taiwan erzählen. Es funkelt möglicherweise der Ausgangsmoment für die gesamte Untersuchung auf, der das Buch noch einmal in ein neues Licht taucht; ein neuer Raum, in welchem die Pfütze situiert ist.
Die Sprache von Wasser
Strukturiert ist der Roman mit dem Bild einer Pfütze als Dreh- und Angelpunkt, als Spiegel und Symbol. Anhand der Pfütze wird die Familiengeschichte erzählt, und auch der Erzähler tritt immer wieder durch die Pfütze aus der Erzählung heraus. Sie wird aktiv aufgesucht – bis sich „eine Erinnerung aufwirbeln lässt“ (S. 171) – und vom Erzähler verwendet, um in Geschichten einzutauchen – „Durch die Pfütze sehe ich sie“ (S. 69). Die Pfütze entwickelt ein Eigenleben – „spiegelt fast verteidigend wider“ (S. 71) – und spricht selbst: „Die Zeiten damals sind eben anders gewesen, bekräftigt die Pfütze.“ (S. 68) Gewässer fungieren auch als Metaphern für einzelne Familienmitglieder, so soll die Erzählung des Vaters über einen Fluss, nicht über eine Pfütze nachvollzogen werden. (S. 61)
Wasser ist auch ein passendes Sinnbild für die Schreibweise dieses Buches: Die Erzählung plätschert, springt von Figur zu Figur, von der Gegenwart in die Vergangenheit. Der Ich-Erzähler mäandert durch Biografien, wirft hier einen Blick durch ein Fenster, nimmt dort auf dem Sozius Platz und fährt ein Stück mit. Brainless zeigt eine große Lust an der Sprache, erzählt in raschem Tempo, wandelt die Bedeutung von Begriffen um und verwendet assoziative, blumige Sprachspiele.
Keine Scheu zeigt der Autor im Umgang mit umgangssprachlichen Ausdrücken („Passt schon“, S. 97), salopp wird die Wortwahl vor allem in den Dialogen, die fast umgangssprachlich erscheinen (etwa mit „Joah“, als Antwort, S. 117) oder kindlich, wenn sich die Erzählstimme z. B. der Mutter zuwendet – die häufig „Mama“ genannt wird – und ihre Schwangerschaft als „verschluckten Neumond“ (S. 27) bezeichnet. Auch finden sich taiwanesische Wörter und Namen im Text, die Einblick geben in zweisprachige Lebenswelten: So erfährt man etwa, dass das Wort für „Tod“ auf Mandarin so ähnlich klingt wie die Zahl Vier (S. 42).
Wenn der Autor übergeht von seiner erzählenden Art in die genaue Beschreibung von Szenen und Bildern, wird der Roman dicht und durchgreifend, können die Leser:innen dem Ich-Erzähler mit allen Sinnen folgen. Beispielsweise in jener Passage, in der sich ausgespuckte Betelnussreste „von der Sonne getrocknet“, farblich von blutrot zu purpur verwandeln (S. 48). Oder in jener Szene, in der zwei Männer gemeinsam zu Abend essen – auf Bambusschemeln sitzend, eine Tischplatte mit Plastikfolie auf Kniehöhe, von Essens- und Knochenresten bedeckt, Kakerlaken am Boden (S. 128). Man fühlt sich beim Lesen in diese Bilder und Szenen transportiert, kann förmlich riechen und schmecken.
Die Distanz, die der Autor zu Beginn des Romans einnehmen will, löst sich im Wasser seiner Pfütze auf, und das ist gut so. Jimmy Brainless erzählt ausgehend von einer Pfütze eine Familiengeschichte, die wie ein plätschernder, mäandernder Fluss in einem Delta mündet, das sich weit verzweigt und assoziativ in unterschiedlichen sprachlichen Ausformungen zwischen Kontinenten und Generationen erstreckt.
Marianne Jungmaier, geb. 1985, studierte Digitales Fernsehen, Medien- und Kulturwissenschaften (B.A.) und Journalismus (M.A.). Fortbildungen in Sprechtechnik und Schreibpädagogik. Sie veröffentlichte bislang zwei Romane sowie drei Lyrik- und zwei Erzählbände. Zuletzt erschien der Lyrikband Gesang eines womöglich ausgestorbenen Wesens (Otto Müller Verlag, 2024). Sie wurde mehrfach ausgezeichnet – u. a. mit dem George-Saiko-Preis für ihren Debütroman Das Tortenprotokoll (Kremayr & Scheriau, 2015). Sie arbeitet auch mit anderen Medien wie Film und Fotografie, und unterrichtet kreatives Schreiben. Homepage von Marianne Jungmaier