Wir schreiben das Jahr 1944. Eine so willensstarke wie verschlossene Frau, Tante Eva genannt, versteckt in ihrer Dienstwohnung in der Kanzlei des Oberkirchenrats in der Schellinggasse 12 im 1. Wiener Gemeindebezirk Juden, Liebesgeschichte inklusive. Man beginnt den Roman Im Verborgenen von Ljuba Arnautovic, geboren 1954 in Kursk (UdSSR), mit dem Verdacht zu lesen, dass sich schon wieder eine nachgeborene Autorin des ergiebigen Stoffs der Naziherrschaft angenommen hat. Dann stolpert man auf Seite 59 erstmals über den Namen Arnautovic, blättert zum Schluss und erfährt, dass der Roman auf wahren Begebenheiten beruht. Dafür hat Arnautovic, die sich bis zu ihrem späten literarischen Debüt als Mitarbeiterin an Projekten des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstands (DÖW), Russisch-Übersetzerin und Rundfunkjournalistin (Radio Ö1) einen Namen gemacht hat, über zehn Jahre in privaten und staatlichen Archiven recherchiert und Erstaunliches zutage gefördert – nicht nur über ihre eigene Familiengeschichte, sondern auch über die Geschichte der Evangelischen Kirche (AB) in Österreich. Im Roman verwendet sie nicht nur für Familienmitglieder durchgehend Klarnamen, sondern etwa auch bei dem Gefängnisseelsorger Hans Rieger, der, einst illegaler Nationalsozialist, die Protagonistin Eva dazu bringt, sechs Juden zu verstecken, von denen fünf den Krieg überleben sollten.
Die Story hinter diesem schmalen Werk, das neben der Geschichte seiner Protagonistin Eva, die eigentlich Genoveva heißt, die Geschichte mehrerer Familien von der Wende zum 20. Jahrhundert an erzählt, ist atemberaubend. Mit dem geschichtlichen Panorama, das Arnautovic mit ihr entfaltet, porträtiert sie gleichzeitig das Wiener Bevölkerungsgemisch aus slawischen Zuwanderern, Juden, Moslems und österreichischer Landbevölkerung: den „Schmelztiegel“ von Nationalitäten, Kulturen und Religionen, aus dem eine so reichhaltige wie zukunftsweisende Kultur hervorging, aber auch die bewegte Geschichte der Stadt im 20. Jahrhundert von der Monarchie über Austrofaschismus und Nationalsozialismus bis zur Zweiten Republik. Dabei sind in den Text zahlreiche Dokumente eingewebt, die kursiv gedruckt sind.
Die Erzählung greift aber auch auf das benachbarte Mähren über und bis nach Russland, wohin – in einem der bedrückendsten Teile der Geschichte – die beiden Söhne Evas als „Schutzbundkinder“ für einen Sommer geschickt werden. Den Älteren sollte sie nie mehr wiedersehen, nachdem er der „antisowjetischen Tätigkeit“ verdächtigt wird und 1942 in seiner Gefängniszelle verhungert, den anderen erst mit über dreißig Jahren als sogenannten „Spätheimkehrer“.
Die eigentliche Leistung der Autorin besteht aber nicht im Auffinden dieser historischen Begebenheiten, aus denen man leicht einen Wälzer hätte stricken können, sondern in deren Aufbereitung – gekonnt verschachtelt und wunderbar lakonisch erzählt, mit kräftigen Schlaglichtern auf der Essenz der Geschichte und mutigen Auslassungen, die einem nach Ende der Lektüre noch lange zu denken geben, sowie mit einer Distanz, die das Unfassbare kommensurabel macht, ohne es emotional auf Abstand zu halten.
Eva, die Tochter mährischer Zuwanderer mit sozialem Aufstiegswillen, heiratet zunächst einen Bosnier namens Arnautovic und tritt zum moslemischen Glauben über, lässt sich aber bald wieder scheiden, tritt aus der Kirche aus und lebt in „wilder Ehe“ mit einem Sozialisten, mit dem sie zwei Söhne bekommt. Sie wird wegen ihres Einsatzes für das Rote Wien als Mitglied des Republikanischen Schutzbundes gefoltert und des Landes verwiesen mit dem Vermerk „Abgeschafft aus Österreich“. „Wie kann eine Weltanschauung, die sich so richtig angefühlt hat, so falsch gewesen sein?“, fragt sie sich.
„Eva handelt.“ In diesem lapidaren Satz steckt die Essenz des Menschenbilds nicht nur des Textes, sondern auch seiner stillen Heldin. Der Roman beginnt mit dem fingierten Selbstmord von Walter Baumgarten, der wegen seiner jüdischen Abstammung eine Vorladung zum Morzinplatz am Donaukanal erhalten hat, wo die Gestapo ihren Hauptsitz aufgeschlagen hatte. Er war Evas Idee gewesen. Sie versteckt den Mann mit jüdischem Wurzeln nicht mit dem Stolz der moralisch Gerechten, sondern aus einer inneren Notwendigkeit heraus oder einfach aus Handlungsnot: „Später wird sie sich fragen, wie sie ohne viel weiteren Nachdenkens, ohne Abwägen, Zweifeln und ohne ihr übliches Misstrauen einfach Ja gesagt hat. Sicher bin ich unter Schock gestanden, denkt sie, oder war betäubt von Riegers Wort ‚Christenpflicht‘, oder von der Hitze, am wahrscheinlichsten ist, dass ich einfach aus Verlegenheit oder aus Feigheit Ja gesagt habe.“
In der Enge des Verstecks kommen sich Eva und Walter Baumgarten näher und heiraten noch vor Kriegsende unter Pfarrer Riegers Segen und später offiziell. Trotzdem soll die Ehe nicht von Dauer sein. Am Schluss des Romans, im September 1945, nimmt sich Walter wirklich das Leben. Eva Baumgarten aber schließt nicht nur 1960 als „älteste Maturantin Österreichs“ endlich die Schule ab, sondern schreibt sich am ersten Schultag ihrer Enkelin an der Universität zum Jus-Studium ein, das sie 1967 beendet.