#Anthologie

Immer nie am Meer

// Rezension von Helmuth Schönauer

Das Duo Grissemann-Stermann ist dem breiten Publikum vor allem als Gehör-Ikone von FM 4 bekannt, bei Lesungen füllt es wie Pop-Stars jeweils die größte Halle des Ortes und in den politischen Äußerungen legen Christoph Grissemann und Dirk Stermann eine Klarheit an den Tag, die nicht nur phonetisch weit von „Hump-Dump“ entfernt ist.

 

Man sollte jedoch nicht vergessen, daß Grissemann-Stermann als Autoren einer geradezu irrwitzigen Literatur fixe Größen der zeitgenösischen Literatur sind. Und letztlich sollte man noch in der Laudatio unterbringen, daß die beiden ein Glücksfall der Literatur-Didaktik sind. Ganze Jahrgänge kommen durch Grissemann und Stermann das erste Mal im Leben mit einer Literatur in Berührung, die sprichwörtlich das Leben zu verändern vermag.

Der Sammelband Immer nie am Meer besteht zur einen Hälfte aus sogenannter „kleinen Prosa“ und zur anderen aus Dialogen, Listen, Tagebüchern und Kommentaren über Absurditäten aus Rundfunk und Fernsehen. So gibt es jede Menge gefälschter oder „erahnter“ Tagebuchsequenzen, die aus dem Sendemüll verschiedener Sendestationen zusammenmontiert sind. In diesen Metatexten zur Medienwelt werden die Zitate auf die Goldwaage gelegt, und der Ausschlag auf der Nonsens-Skala bestimmt den Unterhaltungswert.

Eine Meisterleistung in dieser Hinsicht sind die geheimen Tagebücher von Verona Feldbusch und Dieter Bohlen. „Volles Jucken inner Fresse und so oder so wegen dem Rasieren so oder was ne.“ (S. 139)
Die Schnelllebigkeit der Originale gibt auch der Persiflage nur einen kurzen Bruchteil einer Sendeeinheit, um den entscheidenden Schnitt anzusetzen, aber der ist für die Reputation der Originale oft tödlich.

In der „kleinen Prosa“, deren Ausstrahlung von einer langen literarischen Halbwertszeit geprägt ist, geht es stets grotesk, makaber und sinnes-porös wie bei Danijl Charms zu. Die Romantik wird etwa durch Übungen zu einem Romantik-Seminar für die Anwender auf Jahre hinaus zerstört.
Jemand muß sinnlos warten und blutet dabei wie bei einem frischen Frontalunfall in Fieberbrunn (S. 18), der Künstler Beuys trifft wegen seines Namens ständig Girls, und Henry Maske trägt unter seinem Namen tatsächlich eine Maske.

Die semantische Welt stellt auch ein vorsichtiger Häuslbauer auf den Kopf, der für den Fall eines generellen Kerzenausfalls einen kleinen Stromvorrat zu Hause versteckt hat.
Figuren machen sich immer wieder selbständig und verhöhnen den Autor, der Name wird zur Handlung, Sprichwörter werden mit der Brechstange aufgebrochen, bis sie sich erbrechen.
Jede noch so kleine Nachricht kann zu einer Geschichte auswuchern, wenn die Akzente neu gesetzt werden. Beispielsweise bricht ein Patient zusammen, als er vom Arzt erfährt, daß er nur noch 61 Jahre zu leben habe. Mit einer einzigen Zahlenangabe ist die Floskel der Betroffenheit aufgebrochen, und die Nachricht, tausendfach als Floskel verwendet, erfährt zum ersten Mal einen Sinn.

Welch große Logik all diesen Geschichten innewohnt, zeigt am besten der kleine Sketch „Hi Man“ im Vorspann des Buches. Da führt ein Hund deshalb keinen Namen, weil er wegen der fehlenden Beine ohnehin nicht antraben könnte, sollte er gerufen werden.
Solche Geschichten erklären beinahe wortlos den Sinn der Literatur.

Christoph Grissemann, Dirk Stermann Immer nie am Meer
Anthologie.
Wien: Edition Selene, 1999.
210 S.; brosch.
ISBN 3-85266-115-3.

Rezension vom 23.06.2000

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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