#Lyrik

Immernie

Robert Schindel

// Rezension von Anne M. Zauner

Während er in der Felswand
Nach Griffen sucht in der Schräge
Des Nachmittags ruft sie

von anderen Felswänden zurückgewiesen
Mit Megaphonen aus dem Tal
Ihre Enttäuschung zu ihm herauf

Wenn ich denkt er bevor die Dämmerung
Die Wand überzieht die Griffe alle auslasse
Bin ich lang vor der Dunkelheit bei ihr

Robert Schindel lässt sich Zeit. Mehr als fünf Jahre sind seit seinem letzten Buch vergangen, einer Sammlung von Reden, Aufsätzen und Vorträgen aus elf Jahren mit dem Titel-Paradoxon „Gott schütz uns vor den guten Menschen“ (1995). Seine letzte literarische Arbeit, der umstrittene Erzählband „Die Nacht der Harlekine“ (1994), liegt sogar sechs Jahre zurück.
In der Zwischenzeit hat Robert Schindel kein Jahrtausendende-Epos mit magischen tausend Seiten geschrieben; er verschont seine Leser. Der Autor legt in der Edition Suhrkamp einen schmalen Lyrikband mit knapp 100 Seiten vor, es ist sein fünfter. „Immernie. Gedichte vom Moos der Neunzigerhöhlen“ überbrückt mühelos die Jahre. Der Schriftsteller kleidet im neuen Buch die ewigen Themen der Lyrik, Liebe, Sehnsucht, Tod und Vergänglichkeit, in die Schindelsche Sprache. Auch die Titel „Ohneland“ (1986) und Immernie, sein erster und letzer Gedichtband, scheinen Geschwisterkinder zu sein.

Die literarische Existenz Schindels ist nolens volens in vor und nach „Gebürtig“ gespalten. Vor seinem heftig diskutierten Roman war Schindel nur den Lyrikliebhabern ein Begriff. Einige wenige Feuilletonisten und Leser stritten sich bei „Ohneland“, „Geier sind pünktliche Tiere“, „Im Herzen die Krätze“ und „Ein Feuerchen im Hintennach“ um die Qualität der Schindelschen Sprache – den einen ein schmerzhafter Dorn ins lyrische Herz, den anderen ein noch ungehörter Ton, eine neue Sprach- und Bildwelt.

Auch in Immernie wagt Robert Schindel die Gratwanderung von klassisch lyrischer Form und Sprache, gebrochen durch klangvolle Wortprägungen und Anleihen aus dem Wiener Dialekt. So reimt er „Ein Nierending, ein blondes Schüttelhaar / Und ich bin fürs Gelinde und Gelulle da“ und endet das Gedicht „Nullsucht 12“ auf Hmbsch.
Schindel hält jedoch Balance.
„Immernie 8“, das etwas müde im Gelinde und Gelulle endet, beginnt unverschämt sprudelnd:

Holodoroh ein Sineschmerz
Susannen- und Mariannenschmerz
Atemgeflecht und Niemandsrosenschmerz
Ein Auginauggeträne also Schmerzensschmerz

Wieder erzählen Schindels Gedichte von seiner überschwenglich-sinnlichen Lust am Leben, wenn sich auch dieses Mal das Themenpaar Tod und Vergänglichkeit stärker behauptet als Liebe und Sehnsucht. Melancholische Gedanken und Bilder, dunklere als je zuvor, drängen sich in Schindels Lyrik. Die Gedichtreihen heißen nicht mehr „Lieblieder“ oder „Sehnlieder“ sondern „Nullsucht“ und „Immernie“.

Diese Mürrischkeit kratzt der eigenen Beleidigtheit
Das Lachen aus dem Loch
Dicke steht alsodann das graue Gewölk
Überm steifen Nacken der Depression
(Nullsucht 14)

Der Rastlose ist etwas müder geworden, zynischer. Die Liebe schmeckt fader. Kriege toben. Immer noch zieht er durch die Welt, doch sie ist grauer geworden.

Doch ganz der Blick von Cannaregio her und immerdar
Finden die Explosionen in den Kammern statt
Das fade Herz, ich hatte es schon satt.

Im letzten Gedicht in den letzten Zeilen verabschiedet sich der Autor jedoch vom Leser mit dem hoffnungsvoll trotzigen:

Singen wir
Unser Dennoch.

Robert Schindel Immernie
Gedichte vom Moos der Neunzigerhöhlen.
Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2000.
99 S.; brosch.
ISBN 3-518-12155-3.

Rezension vom 25.09.2000

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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