In vier Texten schildert ein erzählendes Ich seine Erlebnisse, Phantasien, Ängste und Obsessionen, seine Räume, Träume und Traumata. In der ersten und längsten Erzählung, die ihrerseits durch Kapitel strukturiert ist, führt die Lektüre durch die Lebenswelt eines Jungen im Volksschulalter. Der Nachzügler und familiäre Underdog bespricht, beschreibt sein Dasein im Einfamilienhaus mit Garten und Garage, sein Ausgeliefertsein im Religionsunterricht, sein ‚Mithelfen‘ im väterlichen Büro: „Ich habe eine Mappe. Ich zeichne Raumschiffe und Häuser, Burgen und Waffen in die Mappe, mit dem Lineal. Ich kann sogar Perspektive.“ (S. 26)
„Mein Bruder“ und „meine Schwester“ sind in einem Alter, in dem sie sich durch Trips und Sex scheinbar aus der muffigen Enge befreien können – und im Dauerkonflikt mit dem Vater stehen. Sie werden vom Kleinen aus gebührender Entfernung, die nicht einmal die Verwendung ihrer Vornamen gestattet, mit einer Mischung aus Unbehagen, Neugier und Respekt beobachtet. „Mutter“ ist die dumpf Leidende, in Maßen Liebevolle, „Vater“ der bornierte Spießer, Inbegriff patriarchalen Familienterrors.
Der zweite und der dritte Text halten sich quantitativ die Waage. „Jeder auf seinem Stern“ macht positiv besetzte Kindheitswelten fest, in der fürs überspannte Bubenherz obligatorischen Doktorspielszene steckt der Erzähler „ein Geldstück in die Spalte von Muriel.“ (S. 50) „Das Geld“ (S. 61), das dem Ich oder dem Autor in dieser Szene so leicht von der Hand geht, wird im so betitelten nächsten Text zum eher platt-plakativen Inbegriff von Unterdrückung, Abhängigkeit und Herrschaft.
Der letzte und kürzeste, extrem verdichtete Text („Der Garten“) driftet ab in polyphon-fiebrig lallende Visionen zwischen Märchen und postatomarem Szenario. Das bis zu diesem Zeitpunkt relativ klare „Ich“ wechselt Geschlechtsidentität und Alter, so wie die Farbe des Gartens zwischen „tiefblau“ und „rot“ changiert und alles sich dreht wie im Video-Clip – möglicherweise liegt dies am „Gift“(S. 9), welches dem älteren Bruder von Beginn des Buches an zur Flucht aus der knausrigen, konservativen Elternwelt verhilft und nun auch dem Kleinen gute Dienste leisten mag.
Hermanns Band überzeugt dort, wo seine Sprache und seine Wahrnehmung authentisch sind. An manchen Stellen gelingt es ihm, sein erzählendes Ich tatsächlich als Kind denken, fühlen und sprechen zu lassen. „Am Sonntagnachmittag gibt es einen amerikanischen Spielfilm. Meine Ohren sind heiß. Ich mag nicht, daß sie soviel küssen im Film. Und dann kommt die Geigenmusik, und ich werde rot. Ich gehe in die Küche und mache mir Haferflocken mit Kakao, Milch und Zucker. Dann kommt Bonanza, und wir lachen über den dicken Hoss. Einmal sehen wir einen Film, in dem ein Mann die Stimme von Hoss hat. Wie ist das möglich?“ (S. 16)
An anderen Stellen jedoch kann die prätentiöse Schlichtheit der Sprache über Unstimmigkeiten nicht hinwegtäuschen. Ein Mittelstandsvater, der seinen Sohn beim Mittagessen anfährt mit dem Befehl „Schweig“ (S. 19) anstatt „Sei still“ oder „Halts Maul“, wird durch die Unglaubwürdigkeit der pathetischen, literarisierten Ausdrucksweise zum nur gestellten Phantom autoritären Kleinbürger-Patriarchentums und stellt die Wahrnehmung des scheinbar beobachtenden, anscheinend jedoch eher wehleidig spekulierenden, seine Schwäche aufbauschenden Ichs in Frage.
Möglicherweise ist jedoch genau das die Intention des Textes. Vielleicht will der Kosmopolit Wolfgang Hermann die Wahrnehmungsmuster eines von beengenden, verklemmenden provinziellen Familien- und Gesellschaftsstrukturen geprägten „Untertanen“, der sich aufspielt und seinen selbstgefällig zelebrierten „Haß“ gequält inszeniert, darstellen. In dem Fall ist der Text gelungen.