#Lyrik

ins weiße meer der schrift

Evelyn Schlag

// Rezension von Alexander Kluy

In ihrem neuen Lyrikband ins weiße meer der schrift beeindruckt die Autorin Evelyn Schlag mit poetischer Erinnerungskunst auf höchstem Niveau.

Die Engländerin Frances Yates war sich sicher: Die Gedächtniskunst, so die geadelte Historikerin Yates (1899–1981) in ihrem gelehrten Band Gedächtnis und Erinnern. Mnemonik von Aristoteles bis Shakespeare, gleiche „einem inneren Schreiben.“ Denn wer „die Buchstaben des Alphabets kennt, kann, was ihm diktiert wird, niederschreiben und dann das Geschriebene wieder lesen. Ebenso kann, wer Mnemonik gelernt hat, das Gehörte an Orte bringen und es dann aus dem Gedächtnis hersagen. „‚Denn die Orte gleichen den Wachstäfelchen oder dem Papyrus,‘ meinte der römische Intellektuelle, Politiker und meisterhaft frei redende Rhetor Marcus Tullius Cicero, ‚die Bilder den Buchstaben, die Anordnung und Stellung der Bilder der Schrift, und das Hersagen gleicht dem Lesen.‘“

Abhandlungen über die ars memorativa gibt es seit dem griechischen Dichter Simonides von Keos (557/556 – 468/467 v. Chr.), dem „Erfinder“ der Gedächtniskunst. Ein jedes dieser Traktate befleißigte sich gleicher Regeln für Orte, Bilder, Sach- und Wortgedächtnis. Englische Bücher über das Erinnern, die im 16. Jahrhundert erschienen, folgten in ihrer Gliederung noch eng dem Lehrbuch Ad herennium eines anonymen Lehrers für Rhetorik im Rom anno 86 bis 82 v. Chr.
Dies bisweilen arg trockene propädeutische Dokument reklamierte zwei Arten von Gedächtnis, ein natürliches und ein künstliches. Und was wäre ein anderes Wort für künstliche bewahrende Erinnerung? – Poesie. Und zwar im Besonderen in der Gegenwart die Poesie Evelyn Schlags. Vor mehr als vierzig Jahren kam ihr Erstlingsband heraus; seither erschienen von ihr, die seit Langem in Waidhofen an der Ybss ansässig ist, Prosa- und Lyrikbände.
Selten jedoch war eines ihrer Bücher allein schon als haptisches Objekt schöner als ihr neuer Band ins weiße meer der schrift. Ein leicht übergroßes Format, augenschonendes Papier, da in gebrochenem Weiß, eine gut lesbare Schrifttype, luxuriös viele leere Seiten, wo gestalterisch nötig, dazu ein sensibel gestaltetes Covermotiv – voilà! einer der vielleicht schönsten, inhaltlich überzeugendsten Gedichtbände, die bisher in diesem Jahr in Österreich erschienen sind.

Hat jüngst der deutsche Literaturwissenschaftler, Literaturkritiker und Lyriker Björn Hayer in seinem Essayband Die neuen Schöpfer der Dichtung der Gegenwart Schlagworte zugeordnet wie „Vergangenheit und Zukunft“, „Politisches und Körperliches“, „herzhell leuchtende Tote“, „Traum und Realität“, „Verwandlungen im Licht und Geheimnis der Schattenberge“, „Worte und ihre geheimen Wege“, „Wandel und Wunder“ – so findet sich all dies hochkonzentriert, dabei wundersam artistisch umgesetzt in ins weiße meer der schrift.

Schlag schreibt in 62 Gedichten, die – mit Ausnahme eines Poems – zu sieben Themenschwerpunkten arrangiert sind, kunstvoll eindringlich über ihre Eltern und Kindheitserinnerungen an New York, über Liebe und Einsamkeit, über Krankheit und Vereinzelung, über – und das besonders beeindruckend im Auftaktkapitel – Krieg, Zerstörung, Traumata wie über das Sich-Finden. Und auch eine Christine Lavant-Mimikry-Suite von großer Kraft gibt es.

Das letzte, das erzählerischste Gedicht des Bandes ist ein Memorial, eine dem verstorbenen Freund Toni Gruber gewidmete nachruf betitelte Hommage, eine Eloge auf Empathie, Lebens- und Formulierungskunst.

Das vielleicht schönste Poem ist dem Schweizer Schriftstellerkollegen Andreas Neeser zugeeignet. Es ist mit cernicvi überschrieben, dem Namen der Stadt Czernowitz, Tschernowitz, Tscherniwzi, Tschernowzy, Cernauti, Czerniowcse, Csernyivci, die in den letzten 110 Jahren nacheinander zu Österreich-Ungarn, Rumänien, der Sowjetunion, zu Rumänien, zur Sowjetunion gehörte und seit 1991 zur Ukraine gehört (somit etymologisch wie historisch „Gedächtniskunst“ in einer Nussschale ist, und ja auch Heimatstadt von Rose Ausländer, Paul Celan, Gregor von Rezzori, Itzig Manger war):

 

die debattierenden lichter
der ganze luftschwarm
aus verwandten wörtern

legst du den kopf in den nacken
berühren sich vor dem himmelblau
die gewölbten balkone

straßen tragen den mädchennamen
es stecken liebesschlösser
am geländer der brücke

ein hund schläft in der alten synagoge
mit staubigen pfoten vom zement
der renovierung

dolden schwarzen holunders
bekleckern die steine
im hüfthohen gras

alles neigt sich dem anfang zu (S. 42)

 

Am Ende angekommen, will man sich sofort dem Anfang wieder zuneigen dieses famos poetischen Bandes über verlorene Orte, Bilder, Dinge, durch die Zeiten hindurch und in der Zeit abgängige Worte, Menschen, will erneut die Gedichte lesen, sie hersagen.

 

Alexander Kluy ist Autor, Kritiker, Herausgeber, Literaturvermittler. Zahllose Veröffentlichungen in österreichischen, deutschen und Schweizer Zeitungen und Zeitschriften. Editionen, zuletzt Felix Dörmann – Jazz (edition atelier, 2023) und Egon Erwin Kisch – In Hollywood wächst kein Gras (Limbus Verlag, 2023). Zahlreiche Buchveröffentlichungen, zuletzt in der edition Atelier die Bände Der Regenschirm. Eine Kulturgeschichte (2023) und Giraffen. Eine Kulturgeschichte (2022) sowie im Corso Verlag Vom Klang der Donau (2022).

 

Evelyn Schlag ins weiße meer der schrift
Gedichte.
Wien: Hollitzer Verlag, 2024.
128 S., gebunden mit Lesebändchen.
ISBN 978-3-99094-195-9.

Verlagsseite mit Informationen zu Buch und Autorin sowie einer Leseprobe

Rezension vom 24.07.2024

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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