#Lyrik

K.O.P.F.

Erwin Uhrmann

// Rezension von Eva Maria Stöckler

„Dieses Buch funktioniert anders, als man es von den meisten Büchern gewohnt ist. Es spielt mit der Wahrnehmung. Sie können es lesen, es anhören und es erleben, so als ob Sie mitten im Geschehen wären. Wie geht das? Am besten, wir beginnen mit der Wahrnehmung …“ (S.7)

Mit diesen Worten beginnt „Die Welt im Kopf“, jener einleitende Text zu K.O.P.F., in dem der Komponist Karlheinz Essl und der Schriftsteller Erwin Uhrmann das Konzept und den künstlerischen Prozess dieses medienübergreifenden Projektes darlegen. Und genau nach diesen Worten, noch bevor die Rede von Konzept und künstlerischem Prozess ist, ist der Moment, nicht mehr weiterzulesen, sondern sich ganz der Wahrnehmung eines Kunstwerkes hinzugeben, das man lesen, anhören und erleben kann.

Also lese, höre und erlebe ich:

Hören I: Ich höre Wasser plätschern, Grillen zirpen, Vögel zwitschern, Frösche quaken, Donner grollen, Regen prasseln, Menschen sprechen, Babys quengeln, Teller klappern, Glocken bimmeln, Traktoren knattern, Fahrzeuge starten und bremsen, … Diese Geräusche scheinen sich in meinem Kopf und um meinen Kopf herum zu bewegen. Meine Aufmerksamkeit wandert mit den Geräuschen, eine Gelse direkt an meinem rechten Ohr lässt mich sie reflexartig verscheuchen. Aber da ist keine Gelse, nur mein Kopfhörer.

Sehen I: Jedes Kapitel trägt eine Ortsbezeichnung: G.R.A.Z., R.E.T.Z., L.U.N.Z., zu der es jeweils vier Fotografien gibt. Diese sind mit einer genauen Ortsangabe, einem Datum und einer Uhrzeit (wohl der Audio-Aufnahme) versehen: G.R.A.Z.: „Graz, Jakominiplatz, 19.04.2018, 8 Uhr“, „Graz Bauernmarkt am Kaiser-Josef-Platz, 19.04.2018, 11 Uhr“, „Kunstuniversität Graz, Brandhofgasse 21, 19.04.2018, 14 Uhr“. Die Fotografien bilden Straßen- und Marktszenen in Graz ab, ein Gebäude, die Landschaft und den See in Lunz, Landschaft, Stadt und eine Bar in und um Retz, Szenen aus dem Wiener Prater, zeigen die Mündungsregion der Donau, ein Gasthaus in Riedenthal, Karlheinz Essls „Webernuhrwerk“ und Anton Weberns Grab in Mittersill sowie Landschaften aus dem Thayatal.

Lesen I: Die Geräusche, die ich höre, sind unter den Bildern beschrieben. R.I.D.E. Bild 2 „Wien, Prater, 11.08.2018, 14 Uhr Mehrere Durchläufe der großen Achterbahn. Ich stehe abseits der Massen an einem Zaun und habe ein gutes Panorama vor mir. Immer wieder flitzen die Wagen mit großer Geschwindigkeit an mir vorbei, es wird geschrien und gejubelt.“ S.I.L.L. Bild 3 „Mittersill, Friedhof, am Grab der Familie Webern, 09.11.2018, 9 Uhr Es ist sehr ruhig. Vogelgezwitscher und leise Geräusche einer Grabpflegerin. Ab und zu kräht ein Hahn. Ein Schlag der Kirchenglocke um 9.15 Uhr.“

Hören II: Ich kann die unterschiedlichen Geräusche den Bildern zwar zuordnen, bemerke jedoch, dass sie durcheinandergeraten sind. Einmal höre ich Geräusche, die zum ersten Bild gehören, dann folgen Geräusche, die zum vierten, zweiten, dritten Bild beschrieben werden. Das Zuhören wird zu einer akustischen Entdeckungsreise, weil ich herausfinden möchte, zu welchem Bild das Gehörte gehört.

Lesen II: Jeder Ortsangabe sind drei scheinbar zufällig ausgewählte Worte zugeordnet, die für mich in diesem Kontext keinen Sinn ergeben: Retz, Hauptplatz: „heimliche.auszuführen.behauptete“, Thaya, Vogelkonzert: „vergab.berechnungen.inseln“. Canal Magearu: Padelboote und Froschkonzert: „realisiert.gehälter.ungefähr“.

Hören III: Ich höre einen Mann einen Text sprechen, dessen Stimme in die Geräuschkulisse gemischt ist, aber offenbar an einem anderen Ort aufgenommen wurde. Es klingt nach einem Innenraum, ein Zimmer, ein Tonstudio vielleicht. Der Mann spricht langsam, ruhig und deutlich. Die Stimme klingt angenehm. Ich höre ihm gerne zu, bin aber enttäuscht, weil dadurch die Geräusche aus den verschiedenen Szenen etwas in den Hintergrund rücken.

Sehen II: Ich entdecke die Zahl 4: Die einzelnen Orte sind in vier Großbuchstaben geschrieben: G.R.A.Z., R.E.T.Z., L.U.N.Z. D.U.N.A scheint Donau zu bedeuten, S.I.L.L. meint Mittersill, D.Y.J.E. ist Thaya, einzig M.E.A.L. lässt erst in der Bildbeschreibung einen konkreten Ort erkennen. Diese Bezeichnungen werden als Akronyme behandelt und im Untertitel aufgelöst: do-It yourself jealous emperor, Restoring Energy Through Zest, meeting eva at lunch. Jeder Ort wird durch vier Audioaufnahmen und durch vier Fotografien repräsentiert.

Lesen III: Ich lese einen lyrischen Text von Erwin Uhrmann zu jedem Kapitel, der nach den Fotografien abgedruckt ist und der auf das Gehörte Bezug zu nehmen scheint. Es ist jener Text, der in den Aufnahmen zu hören ist. Ich lese mit. Frei assoziierte Gedanken, Bilder, Geräusche aus den Soundfiles werden weitergeschrieben, umgeschrieben. Ich entdecke die scheinbar zufällig den Bildern zugeordneten drei Worte in diesen lyrischen Passagen, wo sie nun, eingewebt in den Text, mehr Sinn ergeben als zuvor. Ich entdecke in D.U.N.A den waagrechten Schriftzug „Sulina“ – sowohl in einer Fotografie als auch im Text von Erwin Uhrmann.

Sehen, lesen, hören: Ich blättere vor und zurück, spiele die Aufnahmen vor und zurück, betrachte die Bilder, höre die Geräusche, lese die Texte, still für mich und gemeinsam mit dem Sprecher. In meinem Kopf, in meiner Wahrnehmung verbinden sie sich zu einem mich seltsam in seinen Bann ziehenden Klangband aus Geräuschen, Klängen und Stimme. Der Text löst sich auf und wird selbst zum Klang, dessen Sinn sich in den Geräuschen in meinem Kopf auflöst.

Das ist K.O.P.F.
Für mich.

Was ist K.O.P.F.?

K.O.P.F. ist eine musikalisch-lyrische Zusammenarbeit zwischen dem Komponisten Karlheinz Essl und dem Autor Erwin Uhrmann. Als Grundlage dient Essls seit 2018 entstehende Klangarbeit H.E.A.D. Mittels Kunstkopf-Stereophonie wurden Soundscapes aufgenommen, die sich auf einen konkreten Ort oder eine besondere Situation beziehen. Uhrmann hat zu acht dieser Kompositionen lyrische Texte verfasst und selbst eingesprochen. Das so entstandene Klangkunstwerk K.O.P.F. lässt in den Stücken D.U.N.A., D.Y.J.E., G.R.A.Z., L.U.N.Z., M.E.A.L., R.E.T.Z., R.I.D.E. und S.I.L.L. die Atmosphäre des Donaudeltas, die Landschaft an der Thaya, das Grazer Stadtzentrum, Lunz am See, ein Gasthaus in Riedenthal, das Umland von Retz, vier Attraktionen im Prater und Anton Weberns Sterbeort Mittersill poetisch lebendig werden. Die Titel bezeichnen den Ort und sind gleichzeitig Akronyme, die die Fantasie des Zuhörers herausfordern. Durch den 3D-Sound werden sie unmittelbar erfahrbar; durch die kartografischen Koordinaten auffindbar.“ So Karlheinz Essl auf seiner Webseite.

K.O.P.F. ist aber auch ein Buch, das nicht nur das künstlerische Projekt K.O.P.F. präsentiert, sondern eine Reihe von begleitenden Texten, die den Entstehungsprozess beleuchten und sich mit einzelnen Aspekten des Projektes auseinandersetzen. Dazu gehören die bereits erwähnte Einleitung der beiden Herausgeber, der Abdruck eines Interviews der Produzentin der Ö1 Sendung Kunstradio-Radiokunst Elisabeth Zimmermann mit Karlheinz Essl und Erwin Uhrmann, zwei Texte des Klangforschers und Professors für Computermusik und Multimedia, Gerhard Eckel, ein lyrisch-dramatischer Text, ein „literarischer Remix der Klangarbeit“ (S. 11) des Tänzers, Choreographen und Schriftstellers Udo Kawasser, klangdramaturgische Überlegungen zum Parameter Raum des Musikwissenschaftlers Julian Kämpfer und des Multimediakünstlers Felix Kruis sowie je ein literarischer Text von Karlheinz Essl und Erwin Uhrmann. Die Aufnahmen sind auf einer CD dem Buch beigegeben. Diese CD überschreitet ebenso wie die in Gerhards Eckels Aufsatz „Künstliche Ohren“ abgedruckten QR Codes, die zu den begleitenden Klangaufnahmen führen, das Medium Buch und weist gemeinsam mit einer am 24. Oktober 2021 ausgestrahlten Sendung im Ö1 Kunstradio – die ihrerseits wiederum Bezug nimmt auf die Buchpräsentation im Literaturhaus Wien am 13. Oktober 2021 – und Videos, die auf der Webseite von Karlheinz Essl veröffentlich wurden, über das Medium Buch hinaus.

Und dennoch: all diese Informationen zum Konzept, zum Prozess, zum Ergebnis braucht es nicht. Was es braucht, ist die Wahrnehmung der Hörenden, Lesenden, Sehenden.

K.O.P.F. ist ein in seiner Dichte beeindruckendes Projekt, das Geräusch, Klang, Raum, Landschaft, Stimme, Text und Bild auf eine vielschichtige Weise eng miteinander verwebt und dabei eine akustische Leichtigkeit behält, der man den dahinter liegenden, auch technisch komplexen Prozess nicht anmerkt. Dabei ist es ein Prozess, der nicht von vorneherein festgelegt war, sondern sich aus der Interaktion von Menschen und (Klang)Landschaften, Texten und Bildern Schritt für Schritt entwickelt hat. Aus dem gemeinsamen künstlerischen Tun des zuhörenden Schriftstellers Uhrmann und des lesenden Komponisten Essl.

Auf diese Weise kann man K.O.P.F. erleben: Ausgehend von bestimmten Orten, kartografisch festgelegt durch Koordinaten, die nach einem speziellen Algorithmus mit drei Worten bestimmt sind, orientiert sich die Auswahl auf Orte, die sich in vier Buchstaben fassen lassen. Die Aufnahmen fixieren nicht das Außergewöhnliche, sondern das Alltägliche, sind das, was in der Aufmerksamkeit und in der Erinnerung des Aufnahmegerätes bestehen bleibt, zeigen Ausschnitte einer Szene, bleiben fragmentarisch, lyrisch, offen, laden ein zum Weiterdenken, Weiterschreiben, Weiterhören. Kartografisch orientierte Passagen Fragemente.

„Erst die verfeinerte Wahrnehmung, die Konzentration auf den unmittelbaren Ort, ließ mich eine Tiefenschärfe erleben, in deren Gegensatz ich die Unschärfe in meinem Alltag zu erkennen glaubte, die Unschärfe, die sich aus eingeübtem Sehen ergibt, in dem das Gehirn die blinden Flecken überblendet.“ (Erwin Uhrmann: Wahrnehmungsetüden, S. 149)

K.O.P.F. Kartografisch Orientierte Passagen Fragmente.
Klangkunstwerk.
Herausgegeben von Karlheinz Essl, Erwin Uhrmann.
Innsbruck: Limbus Verlag, 2021.
160 Seiten, gebunden, mit Abbildungen, QR-Codes und beigelegter CD.
ISBN 978-3-99039-214-0.

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autor

Rezension vom 27.01.2022

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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