Sollen die anderen reisen und sich Geschichten ausdenken. Dieser Autor reist nicht und denkt sich keine Geschichten aus. Sein Text beginnt dort, wo er lebt, im Haus Hetzgasse Nr. 8 im dritten Wiener Bezirk. Man wird dieses Haus, so schreibt Werner Kofler gleich am Beginn von Kalte Herberge, durch die stets unversperrte Haustür betreten haben. Über eine gepflasterte Toreinfahrt, auf der im Herbst die Blätter treiben, und an zu zwei Drittel aufgebrochenen Hausbriefkästen sowie einer seit Kriegsende geschlossenen Tischlerei vorbei gelangt man durch eine vielfach geflickte Holz-Glastür in einen Innenhof mit Klopfstange, Mülltonnen und den kärglichen Resten früherer Ziergärten. Nach drei Stufen rechterhand erreicht man einen Gang mit einer Beleuchtung aus nackten Glühbirnen, vorbei an den leerstehenden Wohnungen der früheren Hausparteien Maier, Lottergstötter, Delfinus Wagner und Prohaska. Ein ähnliches Bild bietet sich in den Stockwerken. Die meisten Mieter sind weggezogen oder rausgeschmissen worden, die wenigsten, und so auch der Dichter, übriggeblieben: „Wir holen dich da raus“ möchte man versprechen.
Nur: Den Werner Kofler holt niemand aus seinem Schreiben raus. Gutgemeinte Rufe wohlwollender Freunde, die im Nebenberuf manchmal gar Literaturkritiker sind und ihre einschlägigen Kritiken seit Jahren dazu verwenden, sich um den Autor Sorgen zu machen, verhallen in der Hetzgasse ungehört. Wie Kalte Herberge zeigt, ist das gut so. Warum, so frage ich mich, sollte man sich über die Wirkung Koflerscher Texte im Ausland auch allzu viele Gedanken machen? Und warum sollte man einen Text wie Kalte Herberge in Hamburg oder in Mailand auch partout nicht verstehen? Eigentlich genügt es, einmal in seinem Leben einen einzigen Wien-„Tatort“ gesehen zu haben, um sich vorstellen zu können, was sich in einem Haus wie dem beschriebenen abspielen kann. In einem der letzten bewohnten Räume hockt ein 55-jähriger Schriftsteller, dessen Meistertrilogie „Am Schreibtisch“, „Hotel Mordschein“ und „Der Hirt auf dem Felsen“ zwischen 1988 und 1991 in dem zu jener Zeit literarisch noch hervorragend beleumundeten Rowohlt-Verlag erschien und der – in dieser Alterskategorie durchaus keine Seltenheit – heute am Rande der österreichischen Literaturförderung, und das heißt: mehr schlecht als recht lebt.
In Kalte Herberge ersteht jetzt Samuel Beckett auf. Werner Kofler gründet den als „Bruchstück“ bezeichneten Text auf seiner nackten Schreibexistenz und setzt diese in einer stilistischen Prägnanz um, die nicht nur an die besten seiner eigenen Texte erinnert, sondern überhaupt an das Beste, was auf diesem Gebiet geschrieben wurde, nur daß Kofler die Sache anders als Beckett eben auch sozial grundiert. Die Verhältnisse wären kaum zu leugnen: Die Existenz des Schriftstellers ist eine Abbruchexistenz – nur logisch, wenn das Schreiben in einem Abbruchhaus stattfindet.
„Eine Abbruchgenehmigung“ nennt Kofler folgerichtig den ersten Teil seines Buches, ein zweiter trägt die doppeldeutige Überschrift „Auf der Strecke“ und setzt sich – von Judith Hermann (der Kofler eine tatsächlich schwachsinnige Stelle ihres letzten Buches unter die Nase reibt) über Benjamin Stuckrad-Barre bis hin zu Christoph Schlingensief – in polemischer Weise mit jenen auseinander, die ständig unterwegs sind, aber eben auch mit jenen, die auf der Strecke zu bleiben drohen. Während die anderen unablässig reisen, verbringt der Autor, anstatt in Spittal an der Drau zu lesen, seine Zeit damit, im Spital zu liegen und zu lesen.
Seinen Witz hat Kofler nicht eingebüßt: Der „Tod des Vaters“ gibt ihm gleichviel zu denken wie der „Tod des Katers“, und von dem großen Raoul Aslan berichtet er en passant eine Geschichte, derzufolge dieser nach einer Absence in „King Lear“ zum Souffleurkasten getreten sei, um sich einhelfen zu lassen, und dann geknurrt hat: „Keine Details – Welches Stück?“ Eine ähnliche Frage könnte man auch an Kalte Herberge richten. Möglicherweise handelt es sich bei diesem Text ursprünglich wirklich nur um einen Racheakt an Felix Mitterer. Im Drehbuch zu dem „Tatort“-Krimi „Tödliche Souvenirs“ hat der Tiroler den vollen Namen des Kärntners für eine Figur benutzt, von der es abschließend wenig vorteilhaft heißt: „Werner Kofler ist tot, er hat sich erhängt.“
Wie man aus dem Text erfährt, ist dieser Satz am 22.12.2002 nicht nur in zahlreiche gutbürgerliche Wohnzimmer, sondern auch über einen der letzten im Abbruchhaus Hetzgasse Nr. 8 verbliebenen TV-Schirme geflimmert. Werner Kofler hat den Schock, der ihn damals befiel, produktiv und aus Kalte Herberge viel mehr gemacht als eine kleinliche Polemik gegen seine vielen Widersacher. Allen Personen, die an der Entstehung des Textes beteiligt waren und in ihm ihre zwielichten Rollen spielen, ist zu danken: Werner Kofler meldet sich mit Kalte Herberge in die österreichische Literatur zurück. Oberste Liga (= erste Sahne), versteht sich!