#Roman

Kaltenberg. Ein Abstieg.

Wilfried Ohms

// Rezension von Walter Schübler

Nicht nur der Duktus von Titel und Untertitel, auch Erzählsituation, Textstruktur, zum Teil auch Plot und Figurenkonstellation von Wilfried Ohms‘ Roman Kaltenberg. Ein Abstieg gemahnen an Thomas Bernhards „Auslöschung. Ein Zerfall“.

Nur ist es nicht ein Privatgelehrter, der zum Begräbnis von Eltern und Bruder aus einer Gegenwelt von Geistesköpfen, wohin er sich vor dem familialen Stumpfsinn geflüchtet hat, widerwillig in die Heimat aufbricht, sondern der Handlungsreisende Kaltenberg, den ein Telegramm – „Vater gestorben, komm bitte sofort Gruß Mutter“ – aus dem „zentraleuropäischen Staat“, wo er, Kaltenberg, ohne viel Erfolg versucht, „unmoderne, oft fehlerhaft gewebte Trevirastoffe zu verkaufen, die die Firma billig als Ausschußware erstand“, nach neun Monaten in die ihm fremd gewordene Heimatstadt Wien zurückruft. Hier versetzt ihn eine „Erinnerungsmaschinerie“ in eine Welt zurück, der er sich längst entwachsen glaubte: in das Reich der biederen Rechtsanwaltswohnung, in der ein mißlauniger Zuchtmeister, ein „gesichtsloser, grau gekleideter Dienstherr“, der mit der Hundepeitsche auf die Kinder losgeht, herrscht, in der sich nicht wie auf dem Herrschaftssitz Wolfsegg fünf, wenn auch verriegelte Bibliotheken befinden, sondern bloß ein Bücherregal mit juristischer Fachliteratur und Buchklubbelletristik.

Der Beerdigung entzieht sich Kaltenberg durch Verschlafen nach einer Sauftour. Was zur Folge hat, daß er – mit einem Kuvert Tausendern als erblichem Trost – der mütterlichen Tür verwiesen wird. „Abzuschenken“, um damit seinen „Herkunftskomplex“ auszulöschen, bleibt Kaltenberg im Gegensatz zum Gutserben Murau nichts. Während letzterer sich nach „Abschaffung“ der Seinigen auf den „Geistes-Gegenweg“ nach Rom macht, gerät Kaltenberg nach seiner Rückkehr in den „zentraleuropäischen Staat“, „dessen schnauzbärtiger Präsident vor Zeiten als Werftenstreikführer Geschichte schrieb“, vom absteigenden Ast, auf dem er sich ohnehin schon längst befindet, auf Abwege.

Gekündigt und froh, „der verhaßten Fron entronnen zu sein“, zieht er mit Piotr, einem mephistophelischen Vaterersatz, von Dorf zu Dorf, um Arbeitskräfte für Deutschland anzuwerben und Interessenten mit Scheinbewilligungen das Geld aus der Tasche zu ziehen – eine Travestie des Lehrer-Schüler-Verhältnisses, das Murau mit seinem Onkel Georg in der „Auslöschung“ verbindet.

Nach einer Verurteilung zu eineinhalb Jahren Haft wegen schweren gewerbsmäßigen Betrugs findet Kaltenberg Unterschlupf bei einem Geschäftsmann, der ihm gerade soviel zahlt, daß er sich seinen Schnaps und hie und da eine Prostituierte leisten kann.

Drei Jahre nachdem er seiner letzten Sohnespflicht, den Vater zu beerdigen, nicht nachgekommen ist, schreibt er in seiner Dachkammer einen 176 Seiten langen Brief an seine Schwester, eben Kaltenberg, der im Gestus eines Geständnisses, einer Beichte um Verständnis ringt. Bezeichnenderweise adressiert an die Kanzlei des verstorbenen Vaters, da ihm die genaue Anschrift der Schwester entfallen ist: Der biographischen Herkunft ist nicht zu entrinnen – da ist die sprachliche Prägung vor. Die Abnabelung, die mit der Weigerung Kaltenbergs beginnt, wie seine Schwester Jus zu studieren, um in die Fußstapfen des Vaters zu treten, muß scheitern, weil neben der emotionalen Devastierung die sprachliche Deformation nicht genug Denkspielraum für eine glückende Alternative läßt. Kaltenbergs wiederholungszwänglerische Rechtfertigungsprosa hat nichts von der Souveränität der virtuos rhythmisierten und hochkomischen sprachlichen Selbstinszenierung des Franz-Josef Murau, vom Anmonologisieren des Geistesmenschen gegen Herkunft und Familie, sie ist vielmehr ein papierenes, unbeholfenes, humorloses Rede-und-Antwort-Stehen einer jener von Murau so verachteten „Leitzordner“-, im Fall Kaltenbergs genauer: Musterkoffer-Existenzen.

Der immerhin am Ende ihres Abstiegs eine Erkenntnis zuteil wird: Das Wort „Caute“ (Vorsicht), das unter dem Petschaft Spinozas steht – Kaltenberg hatte eine Abbildung davon, die er auf der Rückseite eines Buchumschlags gefunden hatte, mit einem Reißnagel an die Wand geheftet -, streicht er am Ende kreuzweise durch und ersetzt es durch eines, das ihm für ihn angemessener erscheint: „Gowno!“ (Scheiße!).

Wilfried Ohms Kaltenberg. Ein Abstieg
Roman.
München: C. H. Beck, 1999.
176 S.; geb.
ISBN 3-406-45287-6.

Rezension vom 20.10.1999

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

Informiert
bleiben

Sie können 3 Newsletter abonnieren:

  • Literaturhaus Wien News
  • Literaturhaus Wien Veranstaltungsprogramm
  • Österreichische Exilbibliothek News

Bitte schicken Sie uns eine entsprechende Nachricht mit dem Betreff „Newsletter bestellen“. Für Abbestellungen bitte im Betreff „Newsletter abbestellen“ schreiben.