Die Leserin begegnet Ina, deren Name erst viel, viel später fällt, als Lehrerin an einem Institut, an dem sie unterschiedlich motivierten Studenten Deutsch beizubringen versucht. Erst in immer neuen Rückblenden wird die Geschichte dieses Auslandspraktikums klar: Die etwa 24-Jährige hatte sich in Wien in Tamas verliebt, der in Budapest studiert und alle zwei Wochen in einem Wiener Lokal arbeitet. Bleiben die Umstände dieser Begegnung auch etwas unrealistisch, so ist Inas weiteres Erleben und Handeln immer glaubwürdig und nachvollziehbar. Als sie merkt, wie wichtig Tamas für sie geworden ist, bewirbt sie sich um eine Praktikantinnenstelle in der Stadt der vielen Brücken. Dass Tamas darüber nicht unbedingt erfreut sein wird, ist ihr vorerst nicht bewusst.
Hier kristallisiert sich die zentrale Frage dieses Kurzromans, der ohne Qualitätsverluste auch als Erzählung tituliert werden könnte, heraus: Was kann passieren, wenn eine bis dahin schlecht und recht funktionierende Fernbeziehung bzw. Fernaffäre plötzlich keine Fernbeziehung mehr ist? Ina ist immerhin so vernünftig, dass sie sich nicht etwa bei Tamas einquartiert, sondern sich ein WG-Zimmer bei zwei Studenten nimmt. Was sie allerdings nicht bedacht hat: der Mann, dem sie nahe sein wollte, hat in seiner Heimat-, Kindheits-, Jugend- und Studienstadt ein eigenes Leben, ein riesiges Netzwerk von Freunden und Bekannten beiderlei Geschlechts, darunter auch von früheren Freundinnen. Auf Ina hat er nicht gerade gewartet, auch wenn er sich ihr hin und wieder liebevoll zuwendet. Unglücklicherweise erweist sich Tamas als ein offensichtlich polygam veranlagter Liebender, während Ina – obwohl nicht unerfahren in Umgang mit Männern – doch eher fixierend und eifersüchtig ist. Dass man es mit einem Seitensprung auch geschickter anstellen kann, scheint Tamas nicht zu wissen. Zudem zieht der junge Mann – und damit hat die Leserin schon wieder nicht gerechnet – seine wissenschaftliche Karriere jedwedem Liebeserleben vor. Dass es Ina, in der man doch am ehesten eine Germanistin vermutet, nichts ausmacht, dass Tamas ausgerechnet Wirtschaft studiert, sagt einiges über die Macht der Gefühle und die emotional-sexuelle Abhängigkeit eines jeden verzweifelt liebenden Menschen.
Mit Tamas‘ Gleichgültigkeit ist es aber noch nicht getan: Inas Pechsträhne geht weiter. Der jungen Frau gelingt es nicht, mit anderen Menschen in ihrer neuen Umgebung Kontakte zu knüpfen. Die Kollegen am Institut sind deutlich älter, ein Ausgehversuch mit FreundInnen eines Mitbewohners scheitert grandios. Und zu allem Übel kommt genau der Mann, der wiederholt Interesse an ihr zeigt, als Liebhaber nicht in Frage. Zwischen all diesen Unmöglichkeiten zerrieben, bleibt der trotz allem besonnenen Heldin nur mehr die heilsame Flucht in die Unterrichtsarbeit.
Susanne Gregor, die schon mehrfach literarisch in Erscheinung getreten ist, zeigt in ihrem Bucherstling mit großer Genauigkeit den Zustand des Nicht-dazugehörens. Ihre Heldin kann in diesem Sommer in Budapest keinen Platz unter der Sonne finden, oder eben, wie Tamas es aus dem Ungarischen übersetzt, keinen eigenen Ort. Inas Aufenthalt in der Stadt gerät zunehmend zu einem Horrorszenario, auch wegen eines äußerst dramatischen, fast lebensbedrohenden körperlichen Ereignisses, an dem Tamas beteiligt ist. Genau dieses heilt sie aber letztendlich von ihrer bedingungslosen Liebe zu dem sich selbst genügenden Mann. Sie kann ihr Praktikum und Budapest mit versöhnlicher Nachsicht verlassen, um eine Erfahrung reicher und ohne große Verlustgefühle.
Doch es sind nicht nur die vielen Wendungen dieser Liebesgeschichte, die die Lektüre unglaublich spannend machen, noch mehr ist es ihre sprachliche Gestalt. Susanne Gregor, die im Schulalter aus der Slowakei nach Wien gezogen ist, beweist hier einen unverwechselbaren Stil, einen konsequent im Präsens gehaltenen Erzählduktus in langen Sätzen, der den Leser immer weiter ins Geschehen hineinzieht. Interessante Beobachtungen, überraschende Reflexionen und eine Reihe von fast immer sehr treffenden Vergleichen beweisen die hohe literarische Qualität dieses Textes. Der häufige Rekurs auf Kindheitserinnerungen und –erfahrungen erinnert an Zeruya Shalevs Liebesleben, die treffende Beschreibung vom Verlauf einer Liebe, die so endet, wie jede (moderne) Liebe enden muss, an Julia Francks Liebediener. Nicht weniger überzeugend sind auch Szenen aus dem Sprachunterricht, zuweilen absurde Momente des WG-Lebens oder atmosphärische Schilderungen des staubig-heißen Budapester Sommers.