Wie persönlich das Buch ist, beweist nicht zuletzt der Umstand, dass die Erzählerin Renate heißt und sehr viele Details mit der Biografie der Autorin übereinstimmen, die Kindheit im Ausseerland bei den Großeltern, die glühende Verehrung des früh verstorbenen Großvaters, der Arztberuf des Vaters und seine moralische Haltung sowie vieles mehr. Auf Seite 94 steht sogar der explizite Hinweis darauf, dass hier nichts fiktionalisiert ist, wenn es heißt, „allen Charakteren in Dieda oder Das fremde Kind hatte ich andere Namen gegeben, wie ich es fast immer tue, weil sie ja doch durch meine Augen gesehen, durch meine Sprache verändert werden. Auch Herrn Tasch hatte ich verschiedene Namen anprobiert, aber keiner hatte ihm gepasst, ein jeder hatte irgendwo gespannt, irgendwo geschlottert, war einfach nicht richtig gewesen, bis ich resigniert und entschieden hatte, Herr Tasch müsse eben Herr Tasch bleiben.“ Vielleicht kehrt der erfahrene Mensch ja nicht nur gelassener in die eigene Kindheit zurück, sondern findet auch einen Zugang zum Erzählen, der zwangloser wird?
Die Form der Miniaturen in Kieselsteine entlastet die Schreibende aber auch vom Drang des Bekenntnishaften, welches den Autobiografien anheftet. Nicht Rechenschaft ablegen ist deshalb die Grundstimmung dieses Buchs, sondern der Wunsch, geliebte Menschen vor dem Vergessen zu bewahren. Kieselsteine werden ausgestreut und dieses Momentum des Streuens steckt in diesen Texten, nicht chronologische Geschlossenheit ist das Ansinnen, nicht das Auserzählen, sondern das Spüren von Stimmungen, das Erkennen von Schmerz und Verlust, aber auch Freude. Der Tod ist auf diesen 120 Seiten dienstbeflissen, dennoch endet das Buch mit einer Geschichte, die aufatmen lässt. Dieses Aufatmen gelingt bei den persönlichen, aber auch politischen Verlusten schwer.
In der Erzählung „Der Pelikan“ tritt deutlich hervor, dass die Kinder zunächst Familie spielen, während die Erwachsenen eher Familie-Zerstören spielen. Tassilo – ein Kind mit special needs wie es heute heißt – wird von der herzensguten Emma versorgt und geliebt. Der allgegenwärtige Großvater erzählt davon, dass der Pelikan ein Vogel sei, der sich in Notzeiten die Brust aufreißt, um seine Jungen mit seinem eigenen Blut zu füttern. Als solch selbstloses Wesen beschreibt er Emma, die nicht einmal die leibliche Mutter Tassilos ist. Die Rückkehr des Vaters nach Krieg und Kriegsgefangenschaft bereitet dieser Selbstlosigkeit ein Ende. Wen der Krieg nicht zugrunde richtet, den richtet die Tristesse und kalte Wut der Nachkriegsjahre zugrunde, könnte der Subtext dieser Episode heißen. Der Zweite Weltkrieg und die Herrschaft der Nationalsozialisten sind eine Konstante durch alle Erzählungen, denn die Deformationen, die er anrichtet, bleiben bis ans Lebensende prägend. Das wäre eine Binsenweisheit, wenn nicht der schnörkellose Stil, der diesen Geschichten zugrunde liegt, eine einfache Dokumentation leisten würde: Es ist nicht immer nur das große Kriegsdrama, das die Menschen und ihr Zutrauen zueinander zu ruinieren droht. Es ist das Kind, das uns diesen Schrecken aus seiner Perspektive wahrnehmen lässt.
Vielleicht ist deshalb die Darstellung des Großvaters und des Vaters, der beiden wesentlichen Protagonisten, die fast in jeder Geschichte präsent sind, nicht nur eine angenehm aufrichtige, sondern aufklärend wertschätzende. Es ist letztlich eine Hommage an diese Form des Widerstands in gefährlichen Zeiten. Sowieso ist es ein Bekennen der Liebe, insbesondere im Text „Was ich dir nie sagen konnte“. Dass es an Humor in kultivierten Haushalten nicht mangelt, zeigt dieser Abschluss: „Immer wolltest du wissen, was danach kommt“, sagte ich. „Jetzt dauert es nicht mehr lange und du wirst es wissen. Aber wie ich dich kenne, wirst du es uns nicht verraten.“