#Prosa

Kindernazi

Andreas Okopenko

// Rezension von Peter Stuiber

1998 – spät, aber doch – erhielt Andreas Okopenko den Österreichischen Staatspreis für Literatur. Ein gesteigertes Interesse an seinen Werken lässt sich auch anhand der Neuauflage seiner Bücher erkennen. Nach dem „Lexikon-Roman“ (1996) und „Meteoriten“(1998) ist nun ein drittes wichtiges Prosawerk des Außenseiters erschienen: Kindernazi. In seinem erstmals 1984 bei Residenz verlegten Roman erzählt der Autor – basierend auf eigenen Erlebnissen während des Krieges – das Leben eines Buben während des „Dritten Reichs“. Es wäre jedoch nicht Okopenko, hätte er herkömmlichen Leseerwartungen entsprochen. Um es vorweg zu nehmen: Kindernazi ist kein im Rückblick anklagendes Bekenntnisbuch einer persönlichen Verirrung.

Man könne zwar die Zeit nicht aufhalten und zurückdrehen, schrieb der Autor über sein Werk, jedoch die Spuren, die das Rad der Zeit hinterlassen habe, „Schritt für Schritt zurückverfolgen“. Dementsprechend beginnt Kindernazi mit dem Ende der Geschichte eines Nazikindes und endet mit dem Beginn der kindlichen Fanatisierung. „Papa, warum hat das alles so kommen müssen?“ (S. 8), fragt der Hitlerjunge Anatol angesichts der militärischen Niederlage Deutschlands und lässt dabei seinen Tränen freien Lauf. Sein Vater stellt ihn vor vollendete Tatsachen: „Hitler hat den Krieg verloren, verstanden? […] Stell dir vor, du warst ein großer Star, ein Kinderstar, und jetzt bist du ein Mann und deine Rolle ist aus.“ (S. 7)

Und dann geht’s in Episoden zurück in die Zeit vor der Niederlage: Noch 1945 glaubt der begeisterte Bub an Goebbels und die Wunderwaffe V3, während mancher seiner Kameraden bereits das teuflische „Kasperltheater“ durchschaut hat. Im Oktober ’44 sind die sorglosen Tage beim Jungvolk vorbei, die „vormilitärischen Qualen der ‚Hitler-Jugend'“ (S. 16) beginnen. Dann – d. h. davor – die Jugendlager mit ihren endlosen Tagen, das Erwachen der Sexualität und ein nie gekanntes Gefühl der eigenen Grenzenlosigkeit und Verbundenheit mit der Natur. Bis 1941 war es offensichtlich ziemlich fad, denn der Ostfeldzug wird freudig begrüßt: „Hurra, das bisher größte Abenteuer Deutschlands. […] Jetzt sind wirklich alle schlechten Menschen unsere Feinde. […] Nach Ostland! In den riesigen Lebensraum für unsere Zukunft.“ (S. 113) In Episode 55 (März 1940) wird der „Jungpimpf“ für das „Jungvolk“ eingekleidet, 1939 folgt der verheißungsvolle Kriegsausbruch: „unmerklich werde ich hier auch sogenannter Erwachsener werden“ (S. 123) Als einer, der aus dem Osten mit seiner Familie ins Reich „heimgekehrt“ ist, wird es Anatol den Einheimischen beweisen, wer der bessere Deutsche ist: „Ja, ich bin bereit, Papa.“ (S. 134)

Die Spurensuche, die Okopenko betreibt, zwingt den Leser zu einer konzentrierten Lektüre, zur Überprüfung vieler Fragen in Zusammenhang mit biografischer Wahrheit und der Folgerichtigkeit von Lebensläufen. Der Kunstgriff einer umgekehrten Chronologie soll genauere Erkenntnisse darüber, „wie es gewesen ist“, ermöglichen. Auch inhaltlich sperrt sich der Text gegen die landläufige Erwartung an „Bewältigungsliteratur“. Okopenko ging es darum, die Lebenswelt eines Kindes/Jugendlichen möglichst exakt aus der Perspektive des Protagonisten und seiner Umwelt darzustellen. Da das Nazikind nicht die Schrecken des „Dritten Reiches“ erkennt, kommen diese auch kaum dezidiert vor. Die persönliche Begeisterung Anatols, hervorgerufen durch eine massive Ideologisierung seitens der Erwachsenen, steht im Vordergrund. Sie könnte – in veränderter Form – ebenso einer Fußballmannschaft gelten oder den Spice Girls. Die Schrecken der Vernichtung kann das Kind nicht begreifen. Krieg wird zu einem Abenteuer, macht richtig Spaß. Die Germanistin Daniela Strigl spricht in diesem Zusammenhang vom „anstößigen Glück in finsteren Zeiten“ und benennt damit den Grund für das Unbehagen, das dem Leser bei der Lektüre dieses Romans überkommen mag. Doch gerade das Widerspenstige fasziniert an Okopenkos Kindernazi, diese Verweigerung standardisierter Sichtweisen und bequemer Urteile. Ein bohrendes Leseerlebnis.

Andreas Okopenko Kindernazi
Prosa.
Klagenfurt, Wien: Ritter, 1999.
138 S.; brosch.
ISBN 3-85415-256-6.

Rezension vom 19.11.1999

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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