Spricht man über die Anekdote in der deutschen Literatur, so fallen meist zwei Namen: Johann Peter Hebel und Heinrich von Kleist. Letzterer veröffentlichte in seinen 1810/11 erschienenen „Berliner Abendblättern“ zahlreiche Anekdoten, die der „Unterhaltung aller Stände des Volks“ dienen, zugleich aber meist auch belehrende Wirkung haben sollten. Es sind kleine „Denkwürdigkeiten“, die eine bestimmte Person oder ein Volk treffend charakterisieren. Auch um Heinrich von Kleists unruhiges Leben und seinen Selbstmord ranken sich seit jeher zahlreiche Gerüchte und Vermutungen. Was liegt also näher, als sich literarisch der Anekdote zu bedienen, um die Figur des Dichters zu erfassen?
In Jan Christs Prosaband geht es zwar nicht um ein „naturgetreues“ Lebensbild Kleists, das teilt uns bereits der Titel mit. „Kleist fiktional“ arbeitet allerdings mit Versatzstücken aus der Biografie des Schriftstellers. So findet sich etwa das wichtige Zusammentreffen mit Goethe oder die Paris-Reise, die Kleist gemeinsam mit seiner Schwester Ulrike – sie begleitete ihn in Männerkleidung – unternahm. Jan Christ nimmt sich beim Umgang mit den Fakten jene Freiheit, die wir auch von Kleists Gestaltung der Anekdoten für die „Berliner Abendblätter“ her kennen. Der Autor nennt seine kurzen Prosatexte jedoch nicht „Anekdoten“, sondern „Treibsätze“. Dieser Begriff weist auf deren Rhythmus hin, auf die „finale Ausrichtung“. Eine Geschichte aus Kleists Leben wird kurz aufgebaut, um sie im Laufe eines einzigen atemlosen Satzes zu einem überraschenden, bemerkenswerten Schluss zu „treiben“. „Diesen Vorgang übertreibend und weitertreibend“, heißt es in einer Akedote über Kleists Schilderung, wie ein Leopard seine Beute verschlingt. „Übertreibend und weitertreibend“ charakterisiert auch die Kurztexte selbst. Was den formalen Aufbau betrifft, ähneln diese im übrigen stark den Anekdoten Kleists.
In vielen der merkwürdigen Geschichten geht es um die Sonderstellung des Schriftstellers in der Gesellschaft. Szenen, in denen Kleist dem Volk gegenübersteht, illustrieren am besten seine Isolation. Etwa wenn er als einziger in einer Menschenmenge die waghalsigen Kunststücke eines Seiltänzers mit stoischer Ruhe verfolgt. Nach dem tödlichen Sturz des Artisten rechtfertigt Kleist seine Gemütsstimmung mit den Worten: „[…] hätte man den Mann gewähren lassen so wie er, wäre er zu retten gewesen, während deren [der Menschen] Sorge sein – Tod war.“ (S. 9)
Selbst in den literarischen Cliquen bleibt Kleist ein Außenseiter. Die Berliner Salons interessieren ihn ebenso wenig wie Goethes Gesellschaft. Eine wohl symbolische Anekdote: „KLEIST, der vom Hauptwege abgeraten war, legte sich ins Gras und ließ die Zeit ins Land gehen, als die Goethesche Gartengesellschaft, die Kleist verloren glaubte, ihm freundlich anbot, sich ihr wieder anzuschließen, Kleist aber äußerte, er könne nicht einsehen, wieso Anschluß gesucht werden müsse […]“ (S. 31) „Vom Hauptwege abgeraten“, so könnte man euphemistisch den Geisteszustand des Dichters beschreiben: Mal ahmt er eine Katze in ihrem Spiel nach, ehe er in Betrachtung seiner eigenen Handbewegungen einschläft, dann wiederum verfolgen ihn Stimmen oder er rezitiert laut Gedichte angesichts des Sonnenaufgangs. Weitere thematische Kreise in „Kleist fiktional“: Frauengeschichten, Schlachten und Kriege, das Leben am Hof.
Ein „ganzes“ Bild Kleists ergibt sich aus den 84 „Treibsätzen“ nicht. Doch Jan Christs Anekdotensammlung entwirft spielerisch eine im wahrsten Sinne des Wortes durchtriebene Skizze des Dichters (oder auch: eines Dichters). Die Anekdote Nr. 14 ist der Schlüssel zum Konzept des Buches: Kleist hatte beim Sitzen für ein Porträt keine Geduld mehr, weshalb der Maler im Zorn das bisher Gemalte zerriss. „[…] Kleist, auf seine Stücke schauend, bemerkte: selbst aus ihnen, den Stücken, erkenne er noch das Ganze, während das Ganze, hätte man es fertig gemacht, ein – Stückwerk geblieben wär.“ (S. 19) Jan Christs „Kleist fiktional“: ein Stück-Werk, jedoch kein Stückwerk.