#Sachbuch

Klio oder Kalliope?

Paul Michael Lützeler

// Rezension von Evelyne Polt-Heinzl, Christine Schmidjell

Klio und Kalliope sind schon in der mythologischen Ikonografie schwer zu unterscheiden. Gemeinsam mit ihren sieben Schwestern tanzen und singen sie unter der Führung Apollons, des Gottes des Lichtes wie der Künste. Klio, Muse der Geschichtsschreibung, wie Kalliope, Muse der epischen Dichtung und Wissenschaft, werden dargestellt mit Griffel und Tafel oder Buchrolle (mitunter ist ihnen auch eine Bücherkiste beigegeben) – ein deutlicher Verweis auf die Verwandtschaft ihres Rüstzeugs wie ihrer Verfahrensweise. Die Frage nach diesen Verwandtschaften und Bezügen zwischen historiografischem und fiktionalem Erzählen ist das einigende Band der vorliegenden Sammlung von Aufsätzen Paul Michael Lützelers aus den Jahren 1986 bis 1995.

Zeitlich sind die Aufsätze um drei Schwerpunkte gruppiert. Den Auftakt bilden Untersuchungen zur Romanliteratur der Restaurationszeit zwischen 1815 und 1830, wo der historische Roman zum prominentesten Dichtungs-Genre in Europa avancierte. Ähnlich wie im zweiten Kristallisationspunkt – der Exilliteratur – stellte der historische Roman in dieser Phase ein ideales literarisches Mittel dar, mit dem Autoren publikumswirksam politische Fragen und Wertvorstellungen artikulieren und diskutieren konnten. Am ausführlichsten analysiert Lützeler hier die frühen Roman Achim von Arnims, deren Neuausgabe er im Deutschen Klassiker Verlag selbst besorgt hat.

Beim Themenfeld Exilliteratur liegt der Schwerpunkt auf den Reflexionen der Autoren über die Adäquatheit der literarischen Mittel angesichts der historischen Ereignisse, die viele Autoren zu einer Abkehr von der Literatur und einer Hinwendung zu Politik, Geschichte und Massenpsychologie führten. Im Zentrum stehen dabei für den renommierten Broch-Forscher Lützeler Hermann Brochs politische Schriften aber auch die zeitgleiche Arbeit am „Vergil“-Roman, in dem Ohnmacht, Grenzen und ethische Schwächen des Mediums Literatur in vielfältiger Weise reflektiert werden.

Der dritte Themenblock ist dem Bereich Geschichte in der postmodernen Literatur gewidmet. Im einführenden Aufsatz liefert Lützeler eine griffige Darstellung der Paradigmen der Moderne und Postmoderne, die im Bild vom „abstrakt-heroischen Modernisten Don Quichote und dem pragmatischen Postmodernisten Sancho Panso“ (S. 121) gipfelt. Einzelanalysen beschäftigen sich mit Barbara Frischmuths „Demeter“-Trilogie ebenso wie mit Funktion und Bedeutung der „neuen ästhetischen Gattung“ (S. 123), der Poetikvorlesung, allgemein.

Den Abschluß bilden zwei kurze Darstellungen neuerer Forschungsansätze in den USA – New Historicism und „German Studies“ der Auslandsgermanistik – und ihrer Brauchbarkeit für die germanistische Forschung im engeren Sinn. Wenngleich der Band, wie häufig bei derartigen Aufsatzsammlungen, nicht frei ist von Redundanzen, ergibt die Zusammenstellung einen anregenden und runden Diskussionsbeitrag zum Verhältnis der beiden titelgebenden Musen-Schwestern.

Paul Michael Lützeler Kilo oder Kalliope
Literatur und Geschichte: Sondierung, Analyse, Interpretation.
Berlin: Schmidt, 1997.
(Philologische Studien und Quellen. 145).
195 S.; brosch.
ISBN 3-503-03763-2.

Rezension vom 21.06.1999

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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