Drei Jahre sind seither vergangen, das „Kirchenvolks-Begehren“ liegt dazwischen, der Abgang des Erzbischofs und zahlreiche innerkirchliche Dialoge. Nach wie vor sorgt die Diskussion um und in der katholischen Kirche für Schlagzeilen und so kann Knabenseminar auch als Anschauungsmaterial zum Thema gelesen werden.
Der in 16 Kapitel unterteilte Text schildert einerseits mittels Kursivdruck gekennzeichnete, persönlich gefärbte Erinnerungen des erzählenden, ehemaligen Zöglings und andererseits die rigide Realität des Knabenseminars in H. Unschwer zu erraten, daß es sich um Hollabrunn handelt, jenes erzbischöfliche Knabenseminar, das wegen Mangel an Schülern nach 111jährigem Bestehen geschlossen werden mußte.
Frühe Berufung zum Priesteramt, die Ankunft im Knabenseminar, die Trennung von der Familie, die männliche, streng hierarchisch geordnete Welt im Seminar, der reglementierte, ja ritualisierte Alltag der Zöglinge, die Bedeutung von Lernen, Beten und Sport, die freiere Welt der Musik und Literatur und schließlich die Marienverehrung werden in Knabenseminar anschaulich und sachlich dargestellt. Bis auf eine Ausnahme (zum Thema Rauchen und Trinken) verbittet sich der Autor relativierende Kommentare, was dem Text eine gewisse Strenge und Solidität verleiht.
Außerdem ist die sachliche Präsentation eine direkte Herausforderung an den Leser, seine eigene Meinung zu bilden. Es geht nicht darum, sich mit der Meinung des Autors auseinanderzusetzten, es geht um die katholische Instituiton Knabenseminar und, da diese Einrichtung junge Priester heranziehen will, um die katholische Kirche im allgemeinen.
Der Text schildert Ereignisse, die 40 Jahre zurück liegen. In der katholischen Kirche hat sich seither vieles verändert. Dennoch bleibt Betroffenheit angesichts der Demut vor Gott, die den Knaben mittels höchst irdischer Demütigungen eingebleut werden sollte; Betroffenheit angesichts des immer wieder memorierten Merksatzes, daß Priesterleben Opferleben sei und die Wichtigkeit von Leid und Entsagen, das die jungen Priesteranwärter Jesus näher bringen sollte und überspitzt im „Gelobt sei der Schmerz“ (S. 112) des jungen Seminaristen gipfelte. Grotesk erscheint die immer wieder postulierte Leibfeindlichkeit, die mit akrobatischen Verrenkungen beim abendlichen Ausziehen (damit niemand die Nacktheit sehen kann!) begann, einem militärischen Duschvorgang in Badehose vorsah und folgenden guten Rat für den Umgang mit dem anderen Geschlecht mitgab: „Wenn du eine Frau siehst, schlag die Augen nieder! Und halte Distanz! Zwischen ihr und dir sollen wenigstens zwei Meter Abstand bleiben.“ (S. 111) Unnötig zu erwähnen, daß das den Schülern vermittelte Frauenbild zwischen niederen Dienstmägden und verführerischen Satansboten beziehungsweise spirituellen Heiligen unterschied.
So gerüstet, sollten die Priester also ihren Dienst versehen; die in den letzten Jahren aufgebrochenen Konflikte sprechen für sich.