#Roman
#Debüt

Kopf aus den Wolken

Ruth Cerha

// Rezension von Gianna Zocco

„Reisen ist Weggehen, hat Marjana gesagt, doch bei unserer Ankunft in New York, an einer Straßenecke in Midtown, habe ich in ihren Augen etwas anderes gesehen, und es hat mir Angst gemacht. Reisen bedeutet auch Zurückkehren, und man weiß nie, wohin.“ (S. 101)
Als Anna, Protagonistin und Erzählerin von Ruth Cerhas Romandebüt Kopf aus den Wolken, diesen Satz formuliert, befindet sich ihr eigenes Verhältnis zum Motiv des Reisens im Umbruch, es ist fraglich geworden, welche dieser Bedeutungen das Reisen im weiteren Verlauf ihres Lebens haben soll.

Das Reisen als Flucht, als Weggehen ohne konkretes Ziel stellt dabei die vertraute Variante dar, die Anna in den vergangenen zehn Jahren ihres Lebens praktiziert hat: Mit 23 Jahren hat sie ihre Heimatstadt Wien und ihre Familie verlassen. Seitdem wechselt sie jedes halbe Jahr die Stadt und ist darauf bedacht, nichts anzufangen, was sie nicht innerhalb kürzester Zeit wieder aufgeben könnte. Das ewige Aufbrechen und Neubeginnen empfindet sie als lebensnotwendigen Mechanismus, dank dem ihr Bedürfnis nach anderen Menschen „abgestorben ist wie ein nicht durchbluteter Körperteil.“ (S. 172) Dieser Mechanismus gerät ins Wanken, als Anna in Kairo auf Marjana trifft, eine reiche Diplomatentochter, die sich von Annas abweisender Art nicht einschüchtern lässt. Mit ihren Fragen nach vergangenen Beziehungen und Erfahrungen bringt sie Anna dazu, sich den selbstgesetzten Regeln der Reihe nach zu widersetzen und die nächste Reise mit ihr gemeinsam anzutreten. Eine Reise, auf der das gewohnte „Sitzen und die Augen geschlossen halten“ (S. 48) nicht funktioniert und die erstmals ein konkretes Ziel hat, wenn auch eines, das Anna erst im Laufe der Reise finden wird.

Jedenfalls, daran lässt Cerha dank ihrer zwischen verschiedenen Zeitebenen springenden Erzählweise keine Zweifel, handelt es sich um eine Reise im mindestens zweifachen Sinne: Neben der physischen Reise begleiten die Leserinnen und Leser Anna auf eine Reise in ihr eigenes Inneres, zu den entscheidenden Stationen ihrer Vergangenheit: Die Kindheit in Wien-Penzing mit dem älteren Bruder Franjo, die Aufenthalte in europäischen Großstädten als junge Erwachsene, die erst kurze Zeit zurückliegende Begegnung mit dem Maler Paul, dessen Bilder tief verschüttete Erinnerungen aus Anna hervorgeholt haben. Inneres und Äußeres, physisch und zeitlich weit Auseinanderliegendes verbindet Cerha durch Motive, die als Grundthemen von Annas Leben erscheinen:
Anna erfährt die Grenzen zwischen Mensch und Natur, Materie und Innerem, Wahrheit und Traum als beängstigend undicht, die Dinge verschmelzen miteinander. Als brutalste Realisierung dieses Prinzips erscheint der frühe Tod ihres Bruders Franjo, den Anna lange Zeit deutet als Ausdruck der „Legende vom Jungen, der zu den Fischen ging, weil er sie so sehr liebte.“ (S. 148) In den Bildern des Malers Paul findet Anna genau dieses Prinzip wieder, erkennt das „Verschmelzen mit der Materie oder das Ausfransen des Körpers an seinem Übergang zum Hintergrund.“ (S. 132)

Annas Furcht vor diesem Verschmelzen der Dinge liegt auch darin begründet, dass sie in ihrer Kindheit nicht lernte, Konflikten und Ängsten durch klärende Worte zu begegnen, sondern durch Verdrängen und jahrelanges Schweigen. Während die Reisen der Vergangenheit dazu dienten, die Stimme hinter diesem Schweigen still zu halten, gelingt es Anna nun nach und nach, das Schweigen durch Erzählen zu ersetzen und ihre Reise damit im wahrsten Sinn des Wortes zu einer schöpferischen Reise zu machen. Es ist Cerhas großes Verdienst, dass dieses Erzählen so vorsichtig und feinfühlig stattfindet, dass der Erkenntnisgewinn über die eigene Vergangenheit die zahlreichen Zwischentöne und Mehrdeutigkeiten, die Annas Erfahrungen begleiten, nicht auflöst. So gelingt es Anna, erste Grenzen zwischen Wahrheit und Traum, Körper und Umwelt, Erzählen und Schweigen aufzubauen, ohne einen der jeweiligen Gegenpole in seiner Bedeutung zu beschneiden.

Vor allem Anna, aber auch die sie begleitenden Nebencharaktere, erscheinen als Schwestern und Brüder der Figuren aus Cerhas bereits 2007 erschienenem Erzählband „Der Gesang der Räder in den Schienen“, die neben vielen Details auch die Neigung zu starkem Rauchen und übermäßigem Alkoholkonsum verbindet. Das stört bisweilen, erinnert es doch an die vielen Texte, die von jungen Erwachsenen aus akademisch-künstlerischem Milieu, Partys, Drogenkonsum und kurzweiligen Beziehungen handeln, und denen gerade der Tiefgang fehlt, der Cerhas Roman ebenso wie ihre Erzählungen auszeichnet. Jedoch soll diese Einzelheit nicht darüber hinwegtäuschen, dass die große Gemeinsamkeit zwischen Roman und Erzählband in der Schilderung von Zuständen des Übergangs, des Unabgeschlossenen, der Veränderung mit offener Richtung liegt. Cerha gelingt es, diese schwellenhaften Momente in großer atmosphärischer Dichte zu zeichnen.

Wien, die den meisten ProtagonistInnen gemeinsame Heimatstadt, erscheint dabei als heimliches Zentrum und Ort nicht aufgearbeiteter Vergangenheit. In Wien findet Annas Reise aber nur ihr vorläufiges Ende. Denn indem Anna das Reisen als Zurückkehren begreift, erhält sie die Chance, ihr Leben selbstbestimmt und befreit von den Lasten der Vergangenheit führen zu können: „Ich spüre, wie meine Ohren sich weiter öffnen, meine Haut empfindlicher wird.“ (S. 234)
Mit Kopf aus den Wolken ist der 1963 in Wien geborenen Autorin ein psychologisch einfühlsamer, fein komponierter Roman gelungen, dessen Lektüre zu empfehlen ist.

Ruth Cerha Kopf aus den Wolken
Roman.
Frankfurt am Main: Eichborn, 2010.
252 S.; geb.
ISBN 978-3-8218-6114-2.

Rezension vom 04.08.2010

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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