Eine schreib- und reiseerfahrene Schriftstellerin fährt also in einen jungen Staat und zugleich in einen der weniger bekannten Nachfolgestaaten Ex-Jugoslawiens. Kosovo hat 2008 seine Unabhängigkeit erlangt, die vom Großteil der Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen anerkannt wurde. Schachinger konzentriert sich bei ihrem Bericht und ihrer Analyse ausdrücklich auf das Kosovo von heute, also zwanzig Jahre nach dem Ende des Kosovokrieges (1998-1999) und elf Jahre nach seiner Unabhängigkeit. Dass die Autorin mit eigenen Erwartungen und Vorstellungen anreist, die sich aus ähnlichen Aufenthalten in „ärmeren“ Ländern, etwa in Kuba, speisen, versteht sich fast von selbst; dass manche davon korrigiert werden, fast ebenso. Das einsame, aufgrund fehlender Sprachkenntnisse besonders erschwerte Herumwandern in der Stadt bestimmt nur die ersten Tage; bald bekommt Schachinger Unterstützung durch MitarbeiterInnen des „Qendra Multimedia“, des Multimedia-Zentrums, die ihr und dem Leser, der Leserin Einblicke in die politische, wirtschaftliche und kulturelle Situation des kleinen Landes eröffnen.
Letztlich erweist sich Prishtine (oder auch Priština, in der serbischen bzw. ex-jugoslawischen Variante) als eine typische mittelgroße Stadt am Balkan, die jemanden, der Belgrad, Sarajevo, Zagreb oder Skopje kennt, kaum überraschen würde, wenn auch Kosovo in seiner wirtschaftlichen Entwicklung weit hinter Serbien, Bosnien oder Kroatien steht. Dennoch macht das für den Eindruck des Landes und der Stadt keinen Unterschied. Schachinger beobachtet etwa volle Straßencafes (meist mit zwei oder mehreren Bildschirmen und lauter Musik), sehr modebewusste und perfekt gestylte Frauen, verwahrloste, aufgelassene Rummelplätze, mit Klebestreifen an Laternenmaste befestigte Kleinanzeigen über Wohnungsvermietung, Autoverkauf oder Nachhilfestunden; sie erlebt auch, dass die Kassiererinnen an der Supermarktkasse Ware ganz automatisch in dünne Nylonsäcke verpacken und dass verdorbene Lebensmittel leider keine Seltenheit sind. Die Autorin besucht auch mehrere Buchhandlungen, in denen sich bis zur Decke und auch auf dem Boden Bücher stapeln, was nicht unbedingt heißen soll, dass die Bewohner lesewütig sind. Außerdem bemerkt sie auf ihren Streifzügen durch die Stadt auffallend viele Sprachschulen, am Stadtrand hingegen zahlreiche Autowaschanlagen und überraschend gepflegte Gärten vor oft halbfertigen Einfamilienhäusern. Ja, so ist das auf dem Balkan, erfährt hier der Leser gemeinsam mit der österreichischen Stipendiatin; so ist der Balkan, bestätigt die Balkankennerin.
Den größeren Teil des Buches machen aber Reflexionen über die gesellschaftliche und politische Situation im heutigen Kosovo aus. Eine beinahe kuriose Eigenheit betrifft die Frage der Hochschulbildung: Um die Jugendarbeitslosigkeit zu verschleiern, schickt man den Großteil jedes Jahrgangs an Universitäten, sowohl an die staatlichen als auch an die zahlreichen privaten, die ihrer zahlenden Kundschaft von Anfang an ein Diplom garantieren. Die kaum vorhandenen Arbeitsmöglichkeiten für die AbsolventInnen beider Richtungen treiben die meisten jungen Menschen ins Ausland. Ein weiteres Merkmal der äußerst prekären wirtschaftlichen Lage ist die fehlende Industrie: fast alle Waren, v.a. aber Lebensmittel werden importiert, hauptsächlich aus den Nachbarländern, weiters aus Italien und der Türkei. Tatsache ist aber auch, dass gesellschaftliche Veränderungsprozesse auch vor dem Kosovo nicht halt gemacht haben: die gleichgeschlechtliche Ehe ist im Kosovo immerhin seit einigen Jahren erlaubt, und im Stadtzentrum sind Graffiti gegen Homophobie zu sehen. Die Situation der Frauen ist zwiespältig. Einerseits können sie wie in jedem ex-sozialistischen Land die gleiche Bildung wie die Männer erhalten, trotzdem ist ihre rechtliche Gleichstellung in einer nach wie vor patriarchalen Gesellschaft noch bei Weitem nicht erreicht; deutlich wird das etwa beim Erbrecht.
Schachinger geht auch auf die Folgen des Kosovo-Krieges ein, von dem etliche Soldatenfriedhöfe und Denkmäler zeugen; darunter ist auch ein Denkmal für die Tausenden von Frauen, die Massenvergewaltigungen zum Opfer gefallen sind. Öffentlich über dieses dunkle Kapitel der jüngsten Geschichte zu sprechen ist aber genauso unerwünscht wie sich nach dem Zusammenhang zwischen der jahrelangen Präsenz von KFOR-Soldaten und dem starken Anstieg der Prostitution im Land zu erkundigen. Ein weiteres, wenn auch weniger tabuisiertes Thema ist die gewaltige Korruption in Politik und Wirtschaft: Die meisten Posten in staatlichen Betrieben werden ausschließlich durch persönliche Beziehungen weitergereicht. Die Mitglieder der Regierungspartei genießen unter den Intellektuellen kein hohes Ansehen, wovon zahlreiche Kundgebungen der Opposition und ihrer Anhänger zeugen.
Kosovarische Korrekturen vermittelt allemal einen Eindruck des heutigen Kosovo und seiner Gesellschaft. Dennoch bleibt die gattungsmäßige Zuordnung des Textes unklar: für einen literarischen Essay ist er mit (sehr aktuellen) Fakten und statistischen Angaben überfüllt und schlicht zu selten poetisch; für eine rein wissenschaftliche Analyse enthält er ein paar unnötige Privatismen. Zudem bleibt der Text sehr in der Gegenwart verhaftet: Ein Überblick über die Geschichte der Region, zumindest ab der osmanischen Zeit, wäre hilfreich gewesen, um die komplizierte und gewaltvolle Entwicklung der letzten Jahrzehnte zu verstehen.