#Sachbuch

Krieg. Wahn. Sex. Liebe.

Walter Fanta

// Rezension von Leopold Federmair

Walter Fanta ist zweifellos einer der besten Kenner von Musils Werk. Als Archivar und Mitherausgeber der digitalen Klagenfurter Musil-Ausgabe hat er über mehr als zwei Jahrzehnte den gewaltigen Nachlaß dieses Autors durchforscht, durchforstet und systematisiert. Robert Musil, der Gegenstand seines wissenschaftlichen Begehrens, denn Fantas Haltung, wie sie im hier zu besprechenden Buch zum Ausdruck kommt, geht über simple „Beschäftigung“ hinaus – Robert Musil hat bekanntlich einen großen, wenn nicht den Hauptteil seines Lebens jenem Romanprojekt gewidmet, das ihn berühmt gemacht hat und ihm einen Ehrenplatz in der Literaturgeschichte sichert. Der Mann ohne Eigenschaften blieb Fragment, und Fanta ist nicht der erste, der sich nach den Gründen dafür fragt. Die scheinbar einfache Frage ist, wie jede nähere Beschäftigung zeigt, komplex, und entsprechend komplex muß die Antwort ausfallen. Fanta geht jedoch darüber hinaus und spürt den Möglichkeiten nach, wie der Roman mit seiner Vielzahl an Erzählsträngen und -fäden an ein Ende hätte kommen können; ein Ende, das Musil durchaus angestrebt, geplant und zeitweise sehr entschieden verfolgt hat.

Die Verwirklichung der Absicht des Sekundärliteraten, der mit dem vorliegenden Buch im wörtlichen Sinn zu einem solchen wird, macht es notwendig, daß er die Perspektiven seines Autors übernimmt – nicht sosehr im Sinne der alten werkimmanenten Schule, sondern eher im strategischen Sinn: Was hatte Musil geplant, welches waren seine Ausgangspunkte, welche innere Entwicklung nahmen die Erzähverläufe, welche Logik läßt sich aus diesen und anderen Elementen (re)konstruieren? Antworten auf diese Fragen sind nur durch genaues Studium der Entstehungsvorgänge, der von Musil getroffenen, überlegten, angedeuteten, bedauerten, zurückgenommenen Entscheidungen sowie der biographischen Umstände, der von außen kommenden Einflüsse, Forderungen und Zwänge privater, zeitgeschichtlicher, literarischer Art möglich. Was die Biographie betrifft, so hat Karl Corino die Löwenarbeit geleistet, und Fanta stützt sich bei seinen (Re)konstruktionen auf dessen Publikationen, auch wenn er sie nicht sehr oft zitiert.

Natürlich wurden in der Vergangenheit bereits allerlei Hypothesen in Hinblick auf die Gründe der faktischen Nicht-Vollendung des Mann ohne Eigenschaften und seine möglichen Vollendungen geäußert, so etwa von Adolf Frisé, dem ersten Herausgeber einer Musilschen Werkausgabe. Frisé hatte die kniffelige, dem Mann ohne Eigenschaften durchaus gemäße Frage „Unvollendet – unvollendbar?“ aufgeworfen.1 Seine Antwort ging in die Richtung einer menschlichen, allzu menschlichen Unvollendetheit, insofern Musil durch sein ehrgeiziges Großprojekt „erschöpft“ und seine Kräfte „aufgezehrt“ worden seien. In einem anderen Aufsatz deutete Frisé freilich an, das werkimmanente Problem des Mann ohne Eigenschaften könne bereits in seinem „Keim“ liegen, seiner „Initialinspiration“2, die er mit dem Wort „Utopie“ benennt. Musil war, darin dem Zeitgeist zu Beginn des 20. Jahrhunderts konform, utopieversessen, doch in der rasant fortschreitenden Wirklichkeit nach dem ersten Weltkrieg und, noch einmal beschleunigt, nach Hitlers Machtergreifung, wurde es für den liberal denkenden, das Individuum hochhaltenden Autor immer schwieriger, den kruden, sich gerade „verwirklichenden“ Utopien des Kollektivismus etwas Tragfähiges entgegenzusetzen. Der Roman war unter diesen Umständen nicht vollendbar. Die Antwort auf die Frage „Unvollendet – unvollendbar?“ könnte also „Beides!“ lauten. Sie wäre wohl auch im Sinn des Protagonisten des Romans und seines experimentellen Denkens.

In jüngster Zeit hat sich Inka Mülder-Bach die Gretchenfrage der Musilforschung gestellt.3 Bei Ihrem Antwortversuch stützt sie sich – anders als Fanta – in erster Linie auf die zu Lebzeiten Musils veröffentlichten Teile des Romans und auf die bereits von Frisé in Auswahl publizierten Fragmente, also auf das, was Fanta als den „kanonischen“ im Unterschied zum „apokryptischen“ Mann ohne Eigenschaften bezeichnet. Mülder-Bach erkennt in der Struktur des Romans narrative Symmetrien, die Musil zweifellos intendiert und im kanonischen Teil zu realisieren versucht hatte, die sich aber im Lauf der Jahre zunehmend verwirrten, was vor allem die Beschäftigung mit dem „kryptischen“, dem unveröffentlichten Material zeigt. Daß der Roman die kakanische Entropie nicht nur beschwört, sondern auslebt, sagt Fanta zwar nicht mit diesen Worten, doch seine (nicht immer ganz übersichtliche) Darstellung legt derlei Formulierungen nahe, oder rechtfertigt sie jedenfalls. Natürlich ist jedes „Was wäre gewesen, wenn…“ Spekulation. Musil hatte im April 1942 nicht mit seinem Tod gerechnet; er war zwar nicht mehr ganz gesund, aber sein Ableben kam doch überraschend. Möglich, daß er die Arbeit am Großroman tatsächlich eines Tages abgebrochen hätte, um „etwas Neues“ zu beginnen, wie Frisé suggeriert. Doch wie hätte er auf das sich bereits 1944 abzeichnende Ende des zweiten Weltkriegs reagiert, während er bei seiner literarischen Arbeit noch gar nicht bis zur geplanten Darstellung des Beginns des ersten Weltkriegs vorgedrungen war? Nicht auszudenken… Irgendwo muß auch der Möglichkeitenforscher seine Spekulationen abbrechen, will er nicht das Gebiet der Primärliteratur betreten (was man den meisten Sekundärliteraten eher nicht empfehlen möchte).

Fanta benennt im Titel seines Buchs kurz und bündig die vier Felder, in denen der Mann ohne Eigenschaften „spielt“: Krieg, Wahn, Sex, Liebe. Ausgangsthese seiner Überlegungen ist die in der Forschung längst bekannte, durch Quellen belegte Tatsache, daß Musil die im August 1913 einsetzend Romanhandlung mit dem Ausbruch des ersten Weltkriegs und der ihn begleitenden, auch schon mit vorbereitenden rauschhaften Stimmung, also Ende Juli/Anfang August enden lassen wollte. Diese Zeitspanne entspricht exakt dem einen Jahr Urlaub, das Ulrich, der Protagonist, vom Leben nimmt, um sich über die Richtung klar zu werden, die er in seinem Leben künftig einschlagen will (tatsächlich wächst auch in dieser Beziehung im Lauf der Monate die Unklarheit). Im Kriegsausbruch sollten die Stränge und Fäden des Romans zusammenlaufen: Gewaltexplosionen im Großen wie im Kleinen, im Öffentlichen wie im Privaten, im materiellen Leben, im Geistesleben, im Geschlechtsleben. Erst mit der Zeit drängt sich eine neue Utopie in die wachsende Erzählmasse, und diese läßt sich mit dem schlichten Wort „Liebe“ benennen. Liebe als Alternative zum Krieg, wenn auch nur privat (oder doch nicht nur)? Make love not war, das wäre die allzu naive Maxime, die Musil allein schon durch die Entscheidung hintertreibt, daß die Liebesform, die er vorschlägt, ausgerechnet die „verbrecherische“ – so die Bezeichnung im Titel des zweiten Buchs des Romans – Geschwisterliebe ist. Fanta zeigt, wie Musil um den Kurs auf das ferne Ende ringt, ohne ihn so recht halten zu können. Was anfangs zusammenzulaufen schien, geht nun, etwa ab 1933, 1934, immer mehr auseinander. Eine der Maßnahmen, mit denen Musil dieser Tendenz entgegenzusteuern versucht, besteht darin, daß er die Aspirationen einiger Figuren verändert – so wird etwa der Friedensapostel, als welcher der General Stumm von Bordwehr zunächst und ironischer Weise auftrat, im Lauf der Erzählzeit (die allerdings denkbar knapp ist, nur wenige Monate: das sei hier hinzugefügt), zum entschiedenen Befürworter des Kriegs.

All dies ist in seiner Fülle von Einzelheiten, Aspekten, Schattierungen für Germanisten und Musil-Kenner spannend zu lesen. Definitive Antworten sollte man sich auch von Fanta nicht erwarten: wenn er sie nicht zu geben vermag, dann vermutlich niemand. In den Skizzen, Fragmenten und Entwürfen der späteren Arbeitsphasen nimmt Musil, so Fanta, mehr und mehr zum Zitat Zuflucht, auch und besonders zum Selbstzitat, zur Wiederholung und Variation dessen, was er Jahre zuvor bereits gedacht, geschrieben und veröffentlicht hatte. Die Arbeit am Mann ohne Eigenschaften bekommt in diesem Sinn etwas Museales, ganz so, als bewegte sich der Autor in einem weitläufig begehbaren Denkmal, das es zu retouchieren gilt. Musil ist dabei, sich selbst zu überleben und sich dem Tod im eigenen literarischen Gespinst entgegenzuschreiben. In dieser (vielleicht etwas überzeichneten) Deutlichkeit sagt es Fanta nicht, aber so ließe sich seine dankenswerte, in der Darstellung auch faszinierende Arbeit als theoretisierender Archivar zusammenfassen. Über die fragmentarischen „Gartenkapitel“ mit Ulrich und Agathe, den beiden Geschwistern, die sowohl die geschlechtliche wie auch die mystische Vereinigung umtänzeln und dabei zunehmend vergeistigen, bemerkt Fanta: „Die Sonne der Klärung, die den sommerlichen Garten mit Licht ausfüllt, ist eine Sprachsonne, unter deren Strahlen sich die epische Substanz in aufgelöstem Zustand darbietet.“ (S. 350) Die Annäherung an mögliche Enden führt letztlich immer wieder nur zu einer der Fransen der ausfransenden Erzählung (um ein von Fanta mehrfach verwendetes Bild zu übernehmen). Der Leser läßt sich am Ende, das kein Ende ist, in einen „gerade noch erzählbaren“4 Schwebezustand führen, den einige Interpreten als Modell für ein Leben in der Postmoderne verstehen wollen, der aber die narrativen Schwierigkeiten, die den Autor bedrängten, nicht lösen konnte, sondern immer weiter verscob, letzten Endes bis zu dessen physischem Tod, der ihn an einem gewöhnlichen Arbeitstag ereilte. Unvollendbarkeit? In diesem Sinn: Ja.

1  Adolf Frisé: Unvollendet – unvollendbar? Überlegungen zum Torso des Mann ohne Eigenschaften, in: Plädoyer für Robert Musil. Reinbek bei Hamburg 1987 (Erstausgabe 1980), S. 157-182

2  Ders.: Der Zeitgenosse Robert Musil, in: Ebenda, S. 197

3 Inka Mülder-Bach: Robert Musil. Der Mann ohne Eigenschaften. Ein Versuch über den Roman. München 2013, Schlußkapitel, S. 395ff.

4  Ebenda, S. 436

Walter Fanta Krieg. Wahn. Sex. Liebe
Das Finale des Romans „Der Mann ohne Eigenschaften“ von Robert Musil.
Klagenfurt/Celovec: Drava, 2015.
376 S.; geb.
ISBN 978-3-85435-765-0.

Rezension vom 04.03.2016

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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