#Lyrik

la(e)sergedichte

Waltraud Seidlhofer

// Rezension von Thomas Eder

Waltraud Seidlhofers la(e)sergedichte präsentieren das Regelwerk eines nicht-individuellen Spracherwerbs, dessen Grundelemente und Verknüpfungsmotive vom menschlich-sozialen Bezugsrahmen in das unpersönlich-alphabetische Schema des Lexikons verlegt werden:

Ihre Gedichte sind so konstruiert, daß „ein wort aus der letzten zeile eines textes […] in der ersten zeile des naechsten seine rolle spielt, das textmaterial zum teil aus der brockhaus-doppelseite stammt, auf der sich dieses wort befindet“. Somit produziert dieses Verfahren eine potentiell unabschließbare Reihe von Textgebilden, das Vokabular eines einmal angestupsten Brockhaus-Textgenerators läuft und könnte leerlaufen. Seidlhofer jedoch fügt den einzelnen Fundtext so zusammen, daß er auch eine schein-thematische Kohärenz erhält: Die Folgen der Kurzverse schießen unvermittelt zum Langgedicht, das die lexikalische und semantische Sprachentstehung und -gewinnung, das Zur-Sprache-Kommen, ein zweites Mal in einem kalkulierten Rahmen vorführt.
Poetologisch faßt dies folgende Stelle im Umschlag der Bedeutungen von einem Gedicht zum anderen. Das eine endet mit: „… splittern / so / aneinander / die worte / durch die saiten / geschlungen / zufallsprinzip“, um dann im nächsten Gedicht, „al rovescio“, in vollendeter Umkehr, wieder aufgegriffen zu werden: „fielen dir zu / mechanismen / ereignisketten / phaenomene / zu bildern geschart …“

Dieses Prinzip des formal-thematischen Krebsganges der Sprache, dieses Lavieren der Bedeutungen in ihrem spiegelbildlichen Wiederauftauchen bildet auch das formale Gerüst des Seidlhoferschen Langgedichts:
In der Mitte des Buchs, markiert durch eine Vakatseite als leeres Zentrum, kippen die Gedichte in sich selber zurück, werden Anfang und Ende der einzelnen Gedichte von diesem Zentrum ausgehend miteinander gespiegelt. D. h., „die texte laufen gespiegelt zurück, das letzte wort eines textes wird zum ersten des gespiegelten textes, das erste zum letzten“. Quelle für diese rückwärtsgewandte Aufzehrung des Textkorsetts bei gleichzeitiger Wort- und Sinnprogression war für Seidlhofer hier der Duden.

Das Regelwerk der Enzyklopädie (Brockhaus) und des Wörterbuchs (Duden) durchzieht das Buch aber nicht als Sinndominante, sondern als Bedingung unter jenen anderen, die die Zusammenfügungen, die Interferenzen der Wörter mit sich selber und dem von ihnen Bezeichneten ins Licht dichterischen Interesses rücken.

Waltraud Seidlhofer la(e)sergedichte
Gedichte.
Mit textgrafiken von Fritz Lichtenauer.
Linz, Wien: Blattwerk, 1996.
99 S.; brosch.
ISBN 3-901445-15-3.

Rezension vom 22.09.1997

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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