Irden also und ausgesprochen irdisch scheint dieses Glück, und doch kultiviert Kramer gerade den Blick auf die Zärtlichkeit unter den Ärmsten, auf die „Vorstadthure“, die auf einen Kunden hofft, „der schlechter dran ist und ärmer als ich“, damit sie sich seiner annehmen kann. Das „Lied am Rand“, das zur Kramer-Trademark geworden ist, klingt süß und bitter zugleich: „Es dreht sich das Akazienlaub/und schwebt durch die Allee;/ich bin, der an ihm frißt, der Staub,/du bist der süße Schnee.“
Bemerkenswert oft nimmt Kramer in seinen Rollengedichten den Standpunkt der Frau ein: „Josefa“, die Dorfhure, und „Die Weinmagd“ verkörpern den zähen Stolz der Ganz-auf-sich-Gestellten; die Metaphern werden wiederum erdig: „In dieser Nacht ist alles trunken,/die Nuß am Baum dünkt seltsam groß,/und schwammig kommt es aus den Strunken -/ein bracher Acker ist mein Schoß.“ Ebenso selbstverständlich wie die weibliche Sexualität kommt in dieser Lyrik die erotische Bedürftigkeit der Alten zu ihrem Recht.
Vor allem aber finden sich – anders als sonst bei Kramer – deutliche autobiographische Spuren. Kramers von diverser holder Weiblichkeit begleitete wochenlange Wanderungen der zwanziger Jahre finden ihren Niederschlag, und wir erfahren, was der Dichter im englischen Exil „Einer jungen Freundin“ zu sagen hat: „weich sind deine Brüste, deine Hände,/doch an mir ist alles wüst und schwer“ – die wüsten Brüder Kramer waren ein Begriff im jugendbewegten Wien. Michael Guttenbrunner hat seinem verehrten Kollegen einen „melancholischen, exzedierenden Geschlechtstrieb“ bescheinigt. Tatsächlich sind gerade Kramers Wandergedichte vom Exzeß geprägt, vom rauschhaften Immer-weiter- und Aus-sich-heraus-Gehen, vom „Überschwang“ und seiner Kehrseite, der Melancholie, von der höchsten Intensität im Angesicht des Nichts und der auf dem Fuß folgenden Ernüchterung. Sowohl die exzessiven Märsche als auch die exzessiven Nächte zielen hier auf die (buchstäbliche) Einverleibung des Augenblicks in der Ekstase, im Außersichsein ab. „Schön ist am Leben nur der Überschuß!“ heißt es da, aber auch: „nur drauf aus, sich zu vernichten, ist der Liebe Übermaß.“
Kramers Liebesgedichte sind eine Einübung in die Vergänglichkeit, sie zeigen ein prekäres Schrebergartenglück, zeigen die schale Idylle des gemeinsamen Erwachens und die Leichtigkeit, ja Erleichterung des Abschieds. Kramer spielt hier die Stärken seiner ganz persönlichen sinnlichen Gewißheit aus, er erzeugt Stimmung mit leuchtkräftigen, suggestiven Bildern, aber er weiß auch, wie das ist, „Wann ein Mann von einer Hure geht“, und beschreibt einschlägige Sexualpraktiken mit routinierter Derbheit.
Auf seiner erotischen Tour de force passiert ihm der eine oder andere Ausrutscher: „Was es gibt an Lust, Marie,/laß verkosten uns wie nie;/küssen kann man nur zu zwein,/schnarchen kann man nur allein.“ Dennoch stößt der Leser in diesem kompakten Band auf eine Goldader: auf unverbrauchte Lyrik voll Irritation und überraschender Innigkeit: „Wie eine Quitte schmeckt dein Kuß;/ich war dir nie, noch nie so nah …“