#Roman

Lauter

Stephan Roiss

// Rezension von Daniela Fürst

Aus Stephan Roiss‘ selbst definiertem Vorhaben, nach seinem Romandebüt Triceratops (Kremayr & Scheriau, 2020) etwas ganz anderes, etwas Lebensbejahendes und Berauschendes zu schreiben, ist Lauter entstanden. Ein Roman, der diesen beiden Attributen durchaus gerecht wird, wenn auch auf überraschenden Umwegen, voll ungewollter Erfahrungen und mit der ganzen Bandbreite an Wohl- und Misstönen, mit denen die Welt und das Leben an sich die Stille in uns füllt.

 

Auch in Stephan Roiss‘ zweitem Roman spielt die Herkunftsfamilie eine zentrale Rolle. Während der namenlose Icherzähler in Triceratops in einer vom Alkoholismus des Vaters und den Depressionen der Mutter geprägten Familie groß wird, ist es in Lauter ein behütetes und bildungsbürgerliches Umfeld, in dem der Protagonist Leon aufwächst. Als die Beziehung seiner Eltern jedoch in die Brüche geht, beginnt auch Leons Welt zu wanken.

Der Vater, ein Akademiker, dessen ursprüngliches Ziel es war, die Philosophie des „Renitenten Rationalismus“ zu entwickeln, verlässt die Familie und beschäftigt sich anstatt dessen zusammen mit einer neuen Partnerin fortan mit Globuli und dem Lektorieren von Büchern über das keltische Baumhoroskop. Die von da an alleinerziehende Mutter, eine ausgebildete Sängerin, verweigert jede finanzielle Unterstützung ihres Ex-Partners und tauscht ihre Gesangsnoten gegen Putzeimer und Lappen. Leons zunehmende Wut scheint in der Musik ein Ventil zu finden, erst als eifriger Besucher von Rock- und Punkkonzerten und später selbst als Musiker in der Band Graógramán, gemeinsam mit Milena und Vio. Vom Vater will er längst nichts mehr wissen und in dem Glauben, auch seine Mutter nicht mehr zu brauchen, schafft er immer mehr räumliche und emotionale Distanz auch zu ihr.

Vom bevorstehenden Tod seiner Mutter erfährt er während einer Kubareise, und obwohl er mit allen Mitteln versucht, so schnell wie möglich zurückzukehren, kommt er am Ende zu spät. Überwältigt von Schmerz, Wut und Schuldgefühlen bricht er nach dem Begräbnis völlig zusammen, zieht sich in die Einsamkeit eines alten Hauses zurück und bricht alle Kontakte zu Freund:innen und Bekannten ab. Für die nächsten zwei Jahre reduziert sich Leons Welt auf ihn selbst, seine unmittelbare Umgebung und ein Minimum an Notwendigkeiten des täglichen Lebens.

Der Titel Lauter bietet den Leser:innen gleich mehrere Analogien und Deutungsmöglichkeiten an. Da ist vor allem die Musik, die durch den Beruf der Mutter von Beginn an wesentlicher Teil von Leons Sozialisation ist. Diese Prägung ist wohl auch die Basis seiner Präferenz für das Auditive und seinen Wunsch, selbst Musiker zu werden. Der Romantitel spiegelt sich zudem auch auf einer emotionalen Ebene im Wechselspiel zwischen Lautheit und Stille wider, wobei das eine als Hilfsmittel gegen die Angst vor dem anderen zu fungieren scheint: „Wir überbrüllten das schlechte Gewissen und zerschlugen im Zorn Porzellan: Okarinas, Aschenbecher, Heiligenfiguren.“ (Seite 19)

Stephan Roiss baut im Text auch immer wieder sprachliche „Lautbilder“, in denen sich unmittelbare Sinneswahrnehmungen mit Leons Erinnerungen und Gefühlen zu Textstücken verweben, die beim Lesen einen eigenen Rhythmus erzeugen. Und bei gerade diesen Stellen empfiehlt es sich, die ansonsten üblicherweise still ausgeführte Kulturfertigkeit des Lesens laut und sogar „Lauter“ auszuüben und der Versuchung nachzugeben, sich am Tempo zu berauschen, „an Tollheiten, silbernen Lippen, Seeluft, Cynar, nur um eine Stunde später von der Tristesse sinnloser Freiheit ins Kissen gedrückt zu werden“ (Seite 196).

Doch Lauter – wie der Autor selbst in einem Gespräch verrät1 – verweist auch auf die Eigenschaft ein lauterer und somit anständiger, sich offen und ehrlich verhaltender Mensch zu sein. Nicht zuletzt durchlebt Leon eine Art „Läuterung“, wie wir es aus der griechischen Tragödie kennen. Der Tod der Mutter und die eigene darauffolgende Krebserkrankung zwingen ihn, seine bis dahin recht hedonistische Lebensweise aufzugeben und auch noch die letzten Schritte des Erwachsenwerdens zu gehen.

Sein Freund Anton, dessen Haus Leon in den Jahren der Isolation bewohnt, hat einige Jahre davor ähnliche emotionale Erschütterungen erlebt und seinen Weg in einer radikalen Veränderung der Lebensweise gefunden. Wohl ahnend, was in Leon vorgeht, lädt ihn Anton zu sich nach Venedig ein. Eine Einladung, der Leon nach überstandener Krebstherapie auch endlich folgt. Der Freund glaubt, dass eine buddhistische Lebensführung und Meditation auch Leon dabei helfen könnten, seine Lebensangst, die große Kränkung und den kindlichen Trotz – wie Anton es beschreibt – abzulegen. Dieser lässt sich auch auf das Experiment ein, doch die erzwungene Stille und die bewusste Abkehr von den alltäglichen emotionalen Befindlichkeiten und Bedürfnissen haben zwar Anton geholfen, seine eigenen Schuldgefühle und emotionalen Leerstellen zu füllen, doch Leon erkennt, dass das nicht sein Weg ist. Vor allem möchte er eines nicht: die Liebe loslassen.

Doch genau die Liebe, die wir für andere empfinden, birgt die Gefahr, verletzt und verlassen zu werden. Erfahrungen, die tiefe Spuren hinterlassen können und die jene Fragen aufwerfen, die auch Leon zum großen Teil unbewusst um- und antreiben: Worin besteht der Sinn von zwischenmenschlichen Beziehungen, wenn man am Ende doch nur allein und verwundet zurückbleibt? Wieviel Verantwortung für mein und das Wohlbefinden anderer kann und will ich übernehmen oder anderen übertragen, inklusive der Abhängigkeit, die man dabei in Kauf nehmen muss? Reicht es, Beziehungen zu haben, die nicht über oberflächliche Bekanntschaften, unverbindliche Freundschaften, Spaß-Haben und sexuelle Attraktion hinausgehen?
Antons Weg ist es, sämtliche Gefühle der Zuneigung in reines Mitgefühl zu verwandeln, welches er allem und jedem zuteil werden lassen kann ohne das Risiko einzugehen, abhängig vom Gegenüber oder gar negativ berührt zu werden. Doch Leon will nicht geheilt werden von der Liebe.

Die Reise, auf die er sich nach dem Bruch mit Anton und einem buddhistischem Leben in Venedig begibt, ist seine ganz eigene, abseits von erprobten sicheren Pfaden, ohne bestimmtes Ziel und mit offenen Sinnen. Begleitet wird er dabei von den allgegenwärtigen Klängen der Welt und mit jedem Tag, mit jeder neuen Station komponiert sich in Leon auch eine neue Melodie, sein ganz eigener innerer Soundtrack für das Jetzt und das was noch kommt. Oder, um es ein letztes Mal mit einem Zitat zu sagen, „es sind noch Lieder zu singen“.


Daniela Fürst
ist Kultur- und Mediensoziologin und seit 2004 redaktionell sowie organisatorisch Teil des Projektes literadio, das Gegenwartsliteratur hörbar macht .

 

Stephan Roiss Lauter
Roman.
Salzburg: Verlag Jung und Jung, 2024.
240 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag.
ISBN 978-3-99027-293-0.

Verlagsseite mit Informationen zu Autor und Buch sowie einer Leseprobe

Homepage von Stephan Roiss

1 Stephan Roiss im Gespräch mit Daniela Fürst bei literadio auf der Leipziger Buchmesse 2024: Stephan Roiss: Lauter – literadio

Rezension vom 21.06.2024

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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