Wetti Himmlisch, möglicherweise ein Pseudonym, hinter dem sich (siehe das aufschlussreiche Nachwort von Peter Payer) der Wiener Journalist und Schriftsteller Vincenz Chiavacci (1847-1916), Autor humoristischer Werke und Schöpfer des Wiener Naschmarkt-Originals „Frau Sopherl“, versteckt, bringt – auf Anraten des „Stammkunden“ Dr. Tales – ihre Lebenserinnerungen zu Papier. Tagebuchartig hält sie Vorkommnisse, Erlebnisse, Lebensweisheiten fest, ohne sich das sprichwörtliche Blatt vor den Mund zu nehmen. Dabei gleitet sie sprachlich von einem Extrem ins andere, um schließlich mit der Wiener Mundart die ihr eigene Ausdrucksmöglichkeit zu finden. Dabei scheut sie weder formal vor der volkstümlichen Verwendung von Fremdwörtern und deren „verdrehter“ Orthografie (Mäulhängcholie statt Melancholie, moräulisch statt moralisch, Mausfalleum statt Mausoleum, Teefizit statt Defizit, imumuh statt immun etc.) noch vor Vorurteilen a la „Nigger – fremdartige Völkerbagaschi“ (S. 111) sowie antisemitischen Ressentiments zurück. Sie spiegelt in vielerlei Hinsicht den sogenannten common sense der Wiener Jahrhundertwende wider und sieht sich als Filter ebendieser auch mit Themen wie Frauenwahlrecht und aufkommendem Feminismus konfrontiert.
Gelegentlich arten diese Beobachtungen zu Doppelconferencen aus, wobei der „Schnoralist“ Dr. Tales den gelehrten, korrigierenden, mitunter aber auch unzuverlässigen Partner abgibt, über den sich Frau Wetti nicht selten ärgern muss, dem sie schließlich aber das informative Glossar „Wiener Wörtlein“ verdankt, ohne das man als Leser zugegebermaßen gelegentlich hilflos wäre. Und doch bleibt so mancher Ausdruck ungeklärt wie etwa „balbieren“ (S. 124) oder „Kaschnö“ (S. 117).
Wetti Himmlischs Memoiren erzählen von ihren Anfängen als Malermodell, ihrer enttäuschenden Ehe mit dem „Betrüger“ Tugomirovic, Vater ihrer Tochter Marie und letztlich Gönner und Retter in der Not, davon, wie sie zu ihrem Beruf als Wartefrau kam und was sie als solche tagtäglich erlebt. Man erfährt von ihrem kärglichen Dasein, ihren Existenz- und Zukunftsängsten. Chiavacci oder wer auch immer diese Erinnerungen verfasst haben mag, wusste sehr gut um die Problematik dieser Jahre, vermochte auch, aus dem Blickwinkel des „niederen“ Volkes das Tagesgeschehen zu veranschaulichen, ohne gekünstelt zu erscheinen. Soziale Missstände, politische Tagesthemen (Frau Wetti fasst sie unter dem Begriff „Popolitik“, S. 35, zusammen) sowie tragische Einzelschicksale (Selbstmord eines Kunden) werden ungeschminkt wiedergegeben, dem Leser somit ein Bild der Wiener Jahrhundertwende skizziert, das von der sogenannten schöngeistigen Literatur mehr oder weniger vernachlässigt wird. Trotzdem lassen sich diese Memoiren – laut Peter Payer – sowohl in die Tradition der erotischen Literatur der Jahrhundertwende a la Josefine Mutzenbacher als auch der Wiener Lokalskizze einordnen. In mancherlei Hinsicht fühlt man sich schließlich auch an Adelheid Popps „Leben einer Arbeiterin“ erinnert, beide Bücher zeigen die Grauzonen einer oft als glanzvoll beschriebenen Epoche auf.