Egal ob sie für junge oder erwachsene Leser schreibt, Renate Welsh setzt sich konsequent mit sozial- und gesellschaftskritischen Fragen auseinander. Außenseiter, schwierige Familienkonstellationen, kulturelle Konflikte oder — wie etwa in Besuch aus der Vergangenheit (1999) über eine jüdische Exilantin, die aus ihrer Heimat vertrieben wurde und nach Wien als Gast zurückkommt — die immer noch gerne verdrängte österreichische Geschichte der 1930er und 1940er Jahre sind immer wiederkehrende Themen. Auch der autobiografisch angelegte Roman Dieda oder das fremde Kind (2002) erzählt von einer schweren Kindheit im Zweiten Weltkrieg – und hier kann man einen Bogen zu Renate Welsh’ Lyrik schlagen, die auf Erlebtes, Gefühltes und Schicksalhaftes zurückgreift.
Vieles ist zweifellos aus einem langen und erlebnisreichen Leben geschöpft, in einer berührenden Weise ehrlich, schonungslos offen und mit dem großem Sprachgefühl einer versierten Erzählerin. Anders gesagt, Leih mir dein Ohr erzählt auf 75 Seiten auch das Leben einer Schriftstellerin: „Ich beobachte eine Marionette,/ die mich spielt.“ (S. 5) heißt es in dem den Band eröffnenden Gedicht Ein Jahrlicht für mich. Man könnte sich der Lyrikerin anschließen und die Gedichte als „zahllose Einzelaktionen“ (S. 5) apostrophieren, wobei sie diejenige ist, „die beobachtet“ (S. 5), nämlich sich und das lebenslange Ringelspiel.
Es sind kurze und reimlose Gedichte, sehr oft ohne Überschrift und einstrophig. Nicht selten sind die Drei-, Vier- oder Fünfzeiler derart aufgeladen, dass sie einem gelungenen Aphorismus nahekommen und eher Bonmot als Poesie sind.
„Weil die Wirklichkeit darunter leidet,
dass sie keine Nase hat, zeigt sie mir oft eine lange,
pfeift sich eins
oder auch drei.“ (S. 39)
Auch über Liebe — vielleicht könnte man sogar Erotik sagen — schreibt Renate Welsh, und das tut sie auf eine Weise, die von Erfahrung und Altersweisheit zeugt. Fast impressionistisch sind die Gedichte, die Reiseeindrücke festhalten: Orangen „prunken prall“, Wäsche ist auf „frei hängenden elektrischen Leitungen“ angeklammert und „Zypressen wachen auf den Hügeln“. Orte, an denen die Schwere aufgehoben scheint: Man könnte glauben, „die Welt wäre in Ordnung.“ (S. 26.).
Das lebenslange Einstehen für Offenheit und gegen vorgefertigte Meinungen illustriert ein Gedicht über eine Fahrt auf der U-Bahn-Linie 6, das in zweiundzwanzig Zeilen eine kleine Geschichte mit einer unerwarteten Wendung erzählt (S. 60). Renate Welsh scheut auch keine politischen Aussagen:
„Europäische Werte verteidigen wir
solidarisch, schützen die Grenzen,
mit Mauern und Stacheldraht.“ (S. 56.)
Leih mir dein Ohr ist auch ein Revuepassieren lassen („Hier und dort klaffen Wunden“, S. 10), ein Bilanzziehen („Ich hatte wirklich/ getan, was ich konnte“, S. 33) und ein detailreich Auskunfterteilen über die Anstrengungen der eigenen Arbeit („Erfahrung festgezurrt in Worte“, S. 34). Das ist auch Thema eines der schönsten Gedichte des Bandes: „Auf der Suche/ nach einer neuen Sprache/ musst du die Bitterkeit/ aus den Wörtern waschen,/ die zu kurz gekommen sind,/ als die Selbstlaute verteilt wurden.“ (S. 17.)
Mutig versifiziert Renate Welsh auch die eigene Sprachlosigkeit nach ihrer Apoplexie:
„Seit mir ein Schlaganfall
die allzu diensteifrige Sprache
gestohlen hat,
bin ich gelegentlich Raststation
vorbeiflitzender Gedanken.“ (S. 42.)
Wer so schreiben kann, hat die eigene Sprache längst wiedergefunden, und die positive Gesinnung: „Nichts, was du tust, ist vergebens,/ Freuden und Last.“ (S. 53.) Wer Gedichte schreiben kann, ist gesundet. Leihen wir Renate Welsh unser Ohr. Das Zuhören spendet Kraft für Sprecherin und Hörer.
Janko Ferk arbeitet und lebt in Klagenfurt und Graz. An der Universität Wien studierte er Rechtswissenschaften, Deutsche Philologie sowie Geschichte und promovierte mit einer Arbeit über die Rechtsphilosophie bei Franz Kafka. Er ist Jurist, Honorarprofessor an der Universität Klagenfurt/Univerza v Celovcu und Schriftsteller. Zuletzt veröffentlichte er die Reisemonografie Der Drei-Länder-Weg (Edition Kleine Zeitung, 2024) und die Monografie Peter Handke. Begleitschreiben, Gespräche und Zustimmungen (LIT Verlag, 2024). Er hat mehrere Bücher zur Kafka-Forschung vorgelegt, in denen er eine eigenständige Methode der Auslegung entwickelt hat. Im Juni 2024 wurde er mit dem Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst ausgezeichnet.