Eine umfassende biografische Arbeit über den Autor phantastischer Romane fehlte jedoch bislang. Diese Lücke sucht der vorliegende Band von Ulrike Siebauer zu schließen. Eines sei gleich vorweggenommen: Die Autorin hat keine Mühe gescheut, um ihre Arbeit auf eine möglichst breite Quellenbasis zu stellen. Detailgenau und dennoch „flüssig“ schildert sie sowohl das unstete Leben des Schriftstellers wie dessen historisches und soziales Umfeld.
Zu „erzählen“ gibt es über letzteres zur Genüge: Als Jugendlicher schmiß Perutz, dessen Familie 1901 von Prag nach Wien umgezogen war, nach einer verpatzten Matura die Schule einfach hin. Nach dem Ableisten des Militärdienstes inskribierte er dann als außerordentlicher Hörer Vorlesungen in Fächern wie Volkswirtschaftslehre sowie Versicherungsmathematik und landete schließlich als Versicherungsmathematiker bei der „Assicurazioni Generali“ im fernen Triest. 1908 gelang es ihm, eine Stelle bei der Anker-Versicherung in Wien zu bekommen. Über die verbleibenden Jahre bis zum Ersten Weltkrieg schreibt Ulrike Siebauer: „Mit knapp 26 Jahren ist Leo Perutz da, wo er sein will. Er hat eine feste Anstellung, mit der er seinen Lebensunterhalt verdienen kann. Auf beruflichem und literarischem Gebiet zeichnen sich Erfolge ab, und er lebt in Wien, in der Stadt, mit der seine Lebenskraft untrennbar verbunden ist […].“ (S.56)
Der Krieg machte dieser glückliche Periode in Perutz‘ Leben ein jähes Ende. Doch dem Schriftsteller gelang es, 1918 an die Vorkriegszeit anzuschließen. „Zehn glückliche Jahre“ nennt die Biografin die Periode von 1918 bis 1928: Kurz nach dem Krieg heiratete Perutz die um 13 Jahre jüngere Ida Weil; ingesamt drei Kinder sollten aus dieser Beziehung hervorgehen. Auch literarisch lief alles zur Zufriedenheit. Nachdem bereits der erste, 1916 erschienen Roman „Die dritte Kugel“ ein beachtlicher Erfolg gewesen war, konnte der Autor mit Büchern wie dem „Marques de Bolibar“ (1920) oder dem „Meister des jüngsten Gerichts“ (1923) sein Angestellten-Gehalt gehörig aufbessern. 1923 kündigte er bei der Versicherung und lebte fortan als freier Schriftsteller (was ihm jedoch zahlreiche finanzielle Engpässe bescherte).
Höhepunkt des literarischen Erfolgs: der Roman „Wohin rollst du, Äpfelchen?“, der 1928 in der Berliner Illustrierten erschien und auf unzähligen Litfaßsäulen groß angekündigt wurde. Das gesesellschaftliche Leben genoß der erfolgreiche Schriftsteller in den 20er Jahren, wie bereits vor dem Krieg, in vollen Zügen. Perutz ging ins Kino, zu Vorträgen, ins Theater, ins Konzert und – ins Kaffehaus. Dort suchte er allerdings weniger nach literarischem Austausch als nach ebenbürtigen Gegnern fürs Kartenspielen.
Doch eine private Katastrophe warf Perutz aus der Bahn. Die Geburt des dritten Kindes überlebte seine gesundheitlich angeschlagene Frau nur um wenige Stunden. Die folgenden Jahre waren von Dauerdepression und zunehmender Isolation gekennzeichnet. 1935 heiratete Perutz wieder, mit der Machtübernahme der Nazis schwanden allerdings die Verdienstmöglichkeiten des Schriftstellers dramatisch. 1938 mußte er mit seiner Frau und seinen Kindern emigrieren. „Es blieb keine andere Möglichkeit als nach Palästina zu gehen, in eine andere Welt, abgeschnitten von allem, was ihm Lebenskraft gegeben hatte. […] Niemand interessierte sich für seine Arbeit. Ruhm und Anerkennung waren mehr schmerzende Erinnerungen an seine frühere Existenz“, resümiert Ulrike Siebauer (S. 293). Nur noch zwei Romane entstanden in den 19 Jahren des Exils: „Nachts unter der steinernen Brücke“ und „Der Judas des Leonardo“ – die Arbeit daran hatte Perutz allerdings schon vor der Vertreibung begonnen.
Die Schilderung der Exilzeit zählt zu den besonders eindringlichen Passagen dieser Biografie. Aber auch sonst ist es der Autorin gelungen, ein aufschlußreiches Bild eines widersprüchlichen Künstlers zu zeichnen, der seine „Renaissance“ als „Bestsellerautor“ nicht mehr erleben durfte.