Unter den Deutsch Schreibenden sind die verstorbene Anita Pichler, Maria E. Brunner, Oswald Egger, Helene Flöss, Bettina Galvagni, Sabine Gruber, Gerhard Kofler, Kurt Lanthaler, Sepp Mall, Josef Oberhollenzer, Matthias Schönweger, Hansjörg Waldner, Erika Wimmer und Joseph Zoderer sozusagen „etabliert“, auch überregional; Markus Außerhofer, Toni Bernhart, Brigitte Comploj, Josef Feichtinger, Ewald Kontschieder, Roland Kristanell, Sebastian Marseiler, Peter Oberdörfer, Almut Oberhollenzer, Hans Oberrauch, Martin Pichler, Konrad Rabensteiner, Joseph Torggler, Stefan Walder und Irma Waldner sind außerhalb Südtirols noch kaum bekannt, haben zum Teil auch erst wenig veröffentlicht. Es ist immer schwierig jene zu nennen, die – unter weit über 100 in deutscher Sprache Schreibenden – „nicht hätten fehlen dürfen“: Mir gehen vor allem Peter Giacomuzzi, Siegfried Höllriegl, Markus Vallazza und Günther Vanzo ab. Insgesamt dürfte die Anthologie aber für die „Literatur“ repräsentativ sein, auch darin, dass Mundartlyrik fehlt, denn diese Lücke spiegelt eine Krise dieses literarischen Verfahrens in Südtirol.
Ob die Sammlung für die Leteratura und die Letteratura gleich repräsentativ ist, vermag ich weniger leicht zu beurteilen. In ladinischer Sprache (genauer: in ladinischen Dialekten) schreiben neben der Mitherausgeberin Rut Bernardi Stefen Dell’Antonio Monech (der übrigens aus der Nachbarprovinz stammt und auch dort lebt), Josef Kostner, Frida Piazza, Iaco Rigo, Claus Soraperra, Mateo Taibon und Roland Verra. Dass einigen dieser Arbeiten weder eine deutsche noch eine italienische Verständnishilfe beigegeben ist, erleichtert die Lektüre nicht unbedingt. Interessant ist die Übersetzung der beiden Gedichte von Dell’Antonio Monech – in den Südtiroler Dialekt, sprachsoziologisch sicher das richtige Medium. (Dass Sepp Malls Gedichte hier auch in ladinischer Übertragung – von Rut Bernardi – erscheinen, ist wohl vor allem eine Geste, um die sprachliche Situation zu illustrieren.)
Die italienischen Texte stammen von Marco Aliprandini, Stefano Bolognesi, Paolo Crazy Carnevale, Bruna Dal Lago Veneri, Mike Frajria, Bobbi Gualtirolo, Giancarlo Mariani, Marco Pontoni, Maurizia Mazzotta Spitaler, Carlo Romeo (von dem übrigens 1998 als Veröffentlichung der Südtiroler Landesregierung unter dem Titel „Un limbo di frontiera. La produzione letteraria in lingua italiana in Alto Adige“ die erste zusammenfassende Darstellung der Literatur italienischer Sprache in der Provinz Bozen erschienen ist), Maria Salemi, Antimo Salimbeni und Marco Sivieri; so gut wie alle von ihnen sind übrigens in der Provinz Bozen geboren. Einige dieser Texte haben mindestens geografisch oder historisch einen unmittelbaren Bezug zu Südtirol. Ein Vergleich mit den im Buch von Romeo genannten Namen lässt, vor allem bei den dramatischen Texten, einige Lücken erkennen.
Bei insgesamt 50 Beiträgerinnen und Beiträgern hat es wenig Sinn, auf einzelne Gedichte oder Prosatexte einzugehen. Nur so viel: Wer auf große Entdeckungen hofft, wird von dieser Sammlung enttäuscht sein. Das sehr kurze Vorwort (von Elmar Locher) bietet kaum mehr als Allgemeinheiten, wirft nicht einmal die beim Ansatz dieser Anthologie doch nahe liegende Frage nach den Zusammenhängen zwischen den Literaturen Südtirols und denen Italiens einerseits, Österreichs und Deutschlands andererseits auf. Selbst nach den Berührungspunkten zwischen den drei Literaturen in Südtirol wird nicht gefragt.
Eben dieses Vorwort stellt die Anthologie in eine Reihe mit den beiden von Gerhard Mumelter 1970 und 1983 herausgegebenen Sammlungen „Neue Literatur aus Südtirol“. Damit macht es, wohl ohne es zu wollen, auf ein grundsätzliches Problem dieses Buchs aufmerksam. Jene beiden Veröffentlichungen waren – in einer unwiederholbaren Aufbruchsstimmung – Versuche, jungen (damals nur deutschsprachigen) Schreibenden aus Südtirol mehr oder minder erstmals den Weg an die Öffentlichkeit zu ermöglichen. 1999 ist mindestens die Literatur deutscher Sprache in Südtirol so etabliert – auch strukturell: durch Verlage, Zeitschriften, literarische Kontakte im gesamten deutschsprachigen Raum -, daß eine allgemeine Anthologie für Erstveröffentlichungen eigentlich keine passende Publikationsform mehr, ja fast ein Anachronismus ist. Die ersten Schritte in das literarische Leben kann und soll eine junge Autorin, ein junger Autor aus Südtirol heute auf andere, „normalere“ Weise machen. Anders ausgedrückt: Die guten Texte, die in diesem Buch stehen, wären auch ohne diese Anthologie erschienen, um die schlechten wäre nicht schade. Eine Anthologie Südtiroler Literatur müsste 1999 eher, mit dem Wiederabdruck repräsentativer Texte, Bilanz ziehen über 20 Jahre der erfolgreichen literarischen Normalisierung – oder sie sollte die Unterschiede und Gemeinsamkeiten der drei Literaturen im Lande demonstrieren.
Dazu bietet dieser Band einiges. Viel wichtiger als Mängel der Konzeption und Schwächen einzelner Arbeiten ist, dass es dieses Buch gibt. Jeder, der will, kann jetzt lesen, daß Texte aus Südtirol entweder zur Leteratura oder zur Literatur oder zur Letteratura – und vielleicht doch auch zusammen – gehören. Das ist tatsächlich ein neuer Ansatz.