Die Leben der Schwestern Josefa und Karla sind seit über achtzig Jahren miteinander verwoben, erst recht, da die beiden seit einigen Jahren wieder gemeinsam in der elterlichen Wohnung in Wien leben. Ihre innige Beziehung, die zwischen tiefster Zuneigung und entnervtem Ärgernis schwankt, wird gerade durch die wechselnde Erzählposition deutlich.
Von Anfang an zeigen sich wesentliche Charakterunterschiede der Schwestern, die jedoch wieder an Schärfe verlieren, durch die Ähnlichkeiten ihrer Biographien. Beginnt die Lektüre mit dem wenig aufregenden Leben der beiden Frauen, das sich träge dahinzieht, unterbrochen nur von selbst auferlegten Ritualen, zu denen wenig mehr als eine strenge Tischkultur, Einkauf und Friedhofsbesuche zählen, so ist es für den Leser interessant, sich aus den zusammengewürfelten Bruchstücken den Lebenslauf jeder einzelnen zusammenzudenken.
Immer wieder stellen die beiden Frauen erstaunt fest, wie tief die Vergangenheit sie heute noch berührt, wie die Eltern und deren Erwartungen und Forderungen mehr Platz in ihren Gedanken einnehmen als sogar das Leben der eigenen Kinder oder Enkel, die nur selten den Kontakt mit Mutter und Tante pflegen.
Dieses vergangene, miteinander verbrachte Leben ist die Hauptquelle von Unstimmigkeiten zwischen den Schwestern. So beschwert sich Sefa, Karla würde immer wieder versuchen, ihr die Erinnerungen zu stehlen: „Meine Vergangenheit gehört mir, auch der Teil davon, den du miterlebt hast.“ Erinnerung wird im Alter zum Besitz, den sich keine von beiden durch irgendein vergessenes Detail absprechen lassen will.
Schwung kommt in den eintönigen Tagesablauf durch einen Brief von Karlas amerikanischer Enkelin Teresa, die von ihrer Oma und Tante über ihre österreichischen Wurzeln aufgeklärt werden möchte. Den beiden Schwestern fällt es zunächst sehr schwer, Erinnerungen auf Band zu sprechen, noch dazu für eine Enkelin und Großnichte, die ohne die „Bürde dieser belastenden deutschen Sprache“ aufwachsen sollte.
Karla erinnert sich nach Jahrzehnten an eine jüdische Mitschülerin und die jüdische Deutschlehrerin Frau Jerusalem und schämt sich sehr, dass sie erst heute nachforscht, was aus diesen geworden ist. Sefa hingegen wird mit alten Ängsten und ihrer Eifersucht auf Karla konfrontiert, von der sie nicht mit Bestimmtheit sagen kann, ob diese sie nicht doch wenigstens einmal mit ihrem verstorbenen Ehemann betrogen hatte. Aus Angst vor der Antwort stellt Sefa die Frage auch nach 27 Jahren nicht.
Zum ersten Mal in ihrer beider Leben sprechen Karla und Sefa über Sexualität, die vor Jahrzehnten und die der Gegenwart. Sie bezeichnen sich als die Generation der verpassten Gelegenheiten: Die wilden zwanziger Jahre hatten sie im Kindergarten, die wilden siebziger im Seniorenheim verbracht. Und so verwundert es nicht, dass die beiden Frauen nun wenigstens im Alter von ihrem Recht Gebrauch machen, kindisch, zickig oder weinerlich zu sein. Nicht nur das, besonders die 81jährige Karla wird mitunter sogar frivol, zumindest in Sefas strengen Augen.
Die Tonbandaufnahmen finden ein Ende durch die Bekanntschaft der beiden mit Gustav Vasicek. Sefa fühlt sich als drittes Rad am Wagen neben ihrer wortgewandten Schwester, doch Karla kann sie davon überzeugen, dass Herr Vasicek ausschließlich an Sefa interessiert ist. Und so darf der Leser schließlich miterleben, wie aktiv die 84 Jahre alte Dame ihr Leben in die Hand nimmt und erste Schritte in eine neue Beziehung mit einem jüngeren Mann wagt (der tatsächlich erst 76 ist). Sohn Rainer reagiert irritiert und mit Missfallen. Doch für die Enkelin Fiona wird die Großmutter durch ihren neuen Verehrer wieder zu einem interessanten Menschen, der ein aktives und lebensbejahendes Leben führt.
Renate Welshs feinsinniger Roman scheint mir empfehlenswert für Menschen, die alternde Familienmitglieder erleben (denn genau so sind „sie“, die alten Frauen), die sich mit dem eigenen Älterwerden beschäftigen, es unter Umständen fürchten und ganz besonders für Frauen, die Schwestern haben, sie lieben oder auch genervt vor ihnen zu flüchten versuchen.