#Sachbuch

Literarische Kriegsfürsorge / Krieg der Geister

Eberhard Sauermann, Uwe Schneider, Andreas Schumann (Hg.)

// Rezension von Alfred Pfabigan

Die Frage, was der Erste Weltkrieg für die Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts bedeutet hat, ist noch immer offen. Möglicherweise hat das, was wir als den „Ersten Weltkrieg“ bezeichnen, über dreißig Jahre gedauert, ja vielleicht sogar erst 1989 sein definitives Ende gefunden. In einem Punkt sind wir uns allerdings heute einig: jene reinigende Katastrophe, die das Volk und seine geistige und politische Führung in einer gemeinsamen moralischen Anspannung einigen würde, war dieser Krieg nicht.

Über seine sonstigen Auswirkungen gibt es verschiedene Auffassungen. So unterschiedliche Autoren wie Walter Rathenau, Karl Renner und Lenin haben in den wirtschaftlich-gesellschaftlichen Organisationsformen, die sich im Verlauf des Ersten Weltkrieges entwickelt haben, eine neue Qualität geortet: Rathenau träumte von einer Versachlichung und Entideologisierung politischer Prozesse, die von nun an von einer wirtschaftlichen Elite geführt werden sollten, Renner sah in der Kriegswirtschaft eine Vorstufe der Sozialisierung und Lenin diagnostizierte einen „staatmonopolistischen Kapitalismus“. Gemeinsam ist allen drei Ansätzen die Reflexion des Umstandes, dass im Krieg weite gesellschaftliche Bereiche militarisiert und damit verstaatlicht wurden. Das gilt auch für die Literatur: nicht nur, dass zahlreiche Dichter, wie etwa Anton Wildgans, freiwillig ihren „Kriegsdienst mit den Waffen“ leisteten, die sie „führen konnten“, gab es auch ein weitgespanntes Netz, dass die Kriegsleistungen der DichterInnen organisierte. Bekannt ist das Kriegsarchiv als Sammelstelle mehr oder minder prominenter Literaten, die dort den militärischen Rahmen fanden, um Vaterland, Kaiserhaus und Heldentod zu preisen. Doch existierte auch ein von der Forschung bisher eher stiefmütterlich behandelter Bereich, die teils staatliche, teils private, in jedem Fall militarisierte Kriegsfürsorge, die eng mit Schriftstellern und ihren Organisationen kooperierte. Die Literatur reagierte also nicht nur auf die Bedürfnisse des Krieges, sie ließ sich genauso unter militärischer Ägide „verstaatlichen“, wie etwa die Rohstoffversorgung.

Dieser Verstaatlichungsprozess wird in Eberhard Sauermanns sozial- und literaturgeschichtlichen Studie über Literarische Kriegsfürsorge allen seinen Aspekten vorgeführt. Sauermann führt uns ein Netzwerk von Institutionen und Publikationen – Almanachen und Jahrbüchern etwa – vor, das militärisch kontrolliert war, von unzähligen „kleineren Begabungen“ getragen war und einige prominente Autoren als Aufputz aufweisen konnte. Der Ertrag, den beispielsweise die Witwen und Waisen aus diesem Einsatz der Federn ziehen konnten, war teilweise beschämend gering, die Literatur war peinlich. Sauermann schöpft aus dem reichen Fundus zur Kriegsliteratur, der in den Kriegsnummern der „Fackel“ und den „Letzten Tagen der Menschheit“ dokumentiert ist. Obwohl er eine Fülle von entlegenem Material herbeizieht, demonstriert er doch, dass der Anspruch des Karl Kraus, mit der „Fackel“ einen Beitrag zur Kulturgeschichtsschreibung seiner Epoche geliefert zu haben, gerechtfertigt ist. Von 1.000 Berufsoffizieren sind 120 gefallen, von 1.000 Metzgern 61, während es bei den Schriftstellern und Journalisten nur 4 waren, berichtet uns Sauermann. Am Ende seiner minutiösen Auflistung der Tätigkeiten der Kriegsfürsorgeorganisationen und des schriftstellerischen Beitrages zur Kriegspropaganda stehen zwei Urteile aus der Wertwelt des Karl Kraus: „Heuchelei“ und „Prostitution“.

Das Urteil ist gerechtfertigt, doch das Erlebnis des Krieges war für die Autoren, die mit ihm konfrontiert waren, äußerst vielfältig. Der tiefe kulturelle Konflikt der Vorkriegszeit – hier die „Helden der Schwäche“, wie Thomas Manns Gustav von Aschenbach, dort die „Bellizisten“, die den Krieg als deutsche Lebensform und Hygiene der konstatierten „Entartung“ entgegensetzten – produzierte eigenartige Verarbeitungsformen, in denen die Frage der persönlichen Lebenserhaltung nicht unbedingt die zentrale Rolle spielte. Die Phantasien vom Bewegungskrieg, der auf Grund der militärtechnischen Überlegenheit Deutschlands zu einem schnellen Sieg führen würde, hielt ja tatsächlich nur einige Monate – dann verwandelte sich der Krieg in einen unerträglichen Stellungskrieg, in dem um jeden Quadratmeter brutal und sinnlos gekämpft wurde. Der Krieg hat seine Parteigänger „enttäuscht“, in einem anderen Sinn, als Freud in seinem berühmten Essay meinte, und die Frage der Kriegshaltung der Schriftsteller ist auch an die Kriegslage und an die Bereitschaft, ideologische Konstrukte zu revidieren, gebunden.

Die vierzehn prominenten deutsch-österreichischen Schriftsteller, die der von Uwe Schneider und Andreas Schumann herausgegebene Band Krieg der Geister behandelt, haben in diesem Konflikt sehr differenziert reagiert. Fast alle haben in ihren privaten oder öffentlichen Äußerungen in den ersten Kriegsmonaten an die Gerechtigkeit des Krieges und an den Sieg der Mittelmächte geglaubt. Mancher, wie der von schon Kraus deswegen gelobte Schnitzler „hat in Schlachten und Siegen / geschwiegen“ – das gilt auch für Stefan George, der so Ralph-Rainer Wuthenow – prädestiniert schien, auf Grund seines „von Nietzsche abgeleiteten Heroismus (…) den Krieg als Manifestation heldischer Wirklichkeit grundsätzlich“ zu bejahen, sich aber tatsächlich dem Bericht seiner Umgebung zufolge skeptisch, ja bedrückt äußerte. Auch Rilke hat seine anfängliche Begeisterung schnell revidiert und sehr dezidiert erklärt, dass „beim besten Willen“ bei ihm keine Kriegslieder zu holen seien. Seine Tätigkeit im Kriegsarchiv – so Anthony Stephens, einen Bericht Stefan Zweigs zitierend – beschränkte sich darauf, „Gagenbogen zu rastrieren“ – „er zog horizontale und vertikale Linien, stundenlang“. Frank Wedekind – so kann man Uwe Schneiders Darstellung lesen – scheint mit dem Krieg ein zynisches Spiel gespielt zu haben, dass eines Marquis Keith würdig gewesen wäre, Musil blieb wie immer unfassbar.

Die Idee von einer zu überwindenden dekadenten Vorkriegsordnung, einer bedrohlichen Isolation Deutschlands und der Abscheu vor dem „allgemeinen Tugendgeschrei der Gegner“ hat nicht nur Thomas Mann dazu gebracht, im Krieg „Reinigung, Befreiung (…) und eine ungeheure Hoffnung“ zu verspüren. Gerhart Hauptmann, ehedem als „Dichter des Mitleids“ gepriesen, finden wir als Unterzeichner des berüchtigten Manifests der 93 Intellektuellen und als Verfasser von später als „Gelegenheitsgedichten“ abgewerteten Werbetexten für die Kriegsanleihe – „Pippa tanzt im Hauptquartier“, so Karl Kraus. Stefan Zweig hat sich in seinen Erinnerungen zum Friedensfreund der ersten Stunde stilisiert – tatsächlich freute er sich – so Bettina Heyl auf die zu erwartenden 100.000 Gefangenen. Thomas Mann hat allerdings auch – spät, aber doch – die Erkenntnis formuliert: „Der Krieg ist heut etwas anderes.“ Folgen wir Jürgen Eders Darstellung, dann hat Mann allerdings das im Ersten Weltkrieg unhaltbare Konstrukt vom moralischen Krieg im Zweiten durchaus erfolgreich praktiziert.

Nur wenige haben der Kriegsideologie von Anfang an eine konsequent ablehnende Haltung entgegengesetzt, das prominenteste Beispiel ist wohl Heinrich Mann, der selbst überrascht war – so Klaus Schuhmacher – in welchem Ausmaß sein „Untertan“ Diederich Heßling im Krieg reüssierte. Manche reiften im Krieg – Hermann Hesse, ehedem der Verfasser harmloser Romane, erlebte eine schwere persönliche Krise, suchte analytische Hilfe bei einem Schüler C.G. Jungs und tat den seltenen Sprung vom Nationalismus zum Ideal der Menschheit. Auch Kafka – das ist wohl der überraschendste Text in diesem Sammelband – parallelisierte den Krieg und seine persönliche Krise. Das „Theater von Oklahama“, das Max Brod ans Ende von „Amerika“ setzte und das als das Hauptindiz für Kafkas Erlösungsphantasien gilt, deutet Thomas Anz auf Grund der Parole „Wir können alle brauchen“ als eine verfremdete Rekrutierungsstelle. Beide Bände beschäftigen sich mit historischen Themen und sind dennoch aktuell: der ungeheure aggressive Triebüberschuss, den ein Krieg mobilisiert, stimuliert immer noch zahlreiche kulturelle Produktionen. Der Opportunismus, den Sauermann beschreibt, und die ideologische Verführbarkeit, die bei Schneider und Schumann zentral stehen, sind ein durchaus zeitgemäßes Phänomen.

Eberhard Sauermann Literarische Kriegsfürsorge
Österreichische Dichter und Publizisten im Ersten Weltkrieg.
Wien, Köln, Weimar: Böhlau, 2000.
404 S.; brosch.
ISBN 3-205-99210-5.

Uwe Schneider, Andreas Schumann (Hg.) Krieg der Geister
Erster Weltkrieg und literarische Moderne.
Würzburg: Königshausen & Neumann, 2000.
314 S.; brosch.
ISBN 3-8260-1762-5.

Rezension vom 12.03.2001

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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