Die Beiträge des Bandes, die ein Symposium an der Universität Münster vom Oktober 2000 dokumentieren, gehen aber weit über die Debatte Buchkultur / neue Medien hinaus. Im engern Sinn beschäftigt sich damit nur das erste Kapitel, wobei vor allem die Kontinuitäten in der Diskussion wie in den zugrundeliegenden Vorstellungshorizonten faszinieren. ?“Aufschlagesysteme 1800 / 2000″ übertiteltlt Eckhard Schumacher denn auch seinen einleitenden Beitrag in Anlehnung an Alfred Kittlers richtungsweisende Studie zur Revolution der Aufschreibesysteme um 1900. Nachgezeichnet und analysiert werden hier die protohypertextuellen Strukturen aus der Buchkultur ebenso wie die Grenzen und Schranken des „Blätterns“ im Internet, wo man zunächst immer unweigerlich auf der Startseite landet und die Wege des Schmökerns durch programmierte Pfadestrukturen vorgegeben sind. Ulrike Bergermann liefert eine Geschichte der Hypertextmetaphern in ihrer auffälligen Rückbindung an die Buchkultur ebenso wie in ihrer Anbindung an poststrukturalistische / dekonstruktivistische Theoriekonstrukte, die in der neuen Technologie des Internet ihre praktische Verortung fanden (S. 48). Andreas B. Kilcher analysiert das Nichtlineare enzyklopädischer Lektüreweisen, die sich in der Aufklärung herausbildeten, Michael Ott die Strukturen der Nichtlinearität am Beispiel prozessualer Editionsprojekte wie Kafkas ?“Process“-Roman, wo im Bestreben, den Entstehungsprozeß, Varianten und Kommentare mit einzubeziehen, die Herstellung von Linearität an den Leser delegiert wird.
Der zweite Abschnitt des Bandes thematisiert das Blättern in theoretischen Kontexten, etwa den Zusammenhang zwischen psychoanalytischen (Elisabeth Strowick, Iris Hermann) und systemtheoretischen (Holger Heubner) Verfahrensweisen und nichtlinearen Textlektüren.
Teil drei liest die Weltliteratur neu unter der Fragestellung, wie sich die Werke, die Autoren zum Blättern verhalten. Untersucht werden unter anderem Beispiele der Barockliteratur (Jörg Löffler), Laurence Sternes „Tristram Shandy“ (Tanja Schultz), Jean Paul, bei dem sich in einzigartiger Weise über das Geräusch des (Um)Blätterns die Lese(r)- und Schreib(er)-Horizonte verbinden (Ulrike Hagel), Rilkes Suche nach der „richtigen“ Lektürehaltung im „Malte Laurids Brigge“, Robert Walsers spezifische Art des flanierenden Lesens und Schreibens (Stefan Willer), Walter Benjamins Blättern in den großstädtischen „Heuschreckenschwärmen von Schrift“ (Jürgen Gunia) und Thomas Bernhards zum „Blättern“ verurteilte intellektuelle Untergeher (Carlo Brune). Nicht nur die Fülle der Themen, auch die Qualität der Beiträge – durchwegs von jungen Literaturwissenschaftern – ist beeindruckend und macht das Buch zu einer angenehmen und spannenden Lektüre.