#Sachbuch

Literatur in Österreich 1938–1945

Uwe Baur, Karin Gradwohl-Schlacher

// Rezension von Wolfgang Straub

Sitzt man am Franziskanerplatz, der vielen als schönster unter Wiens Plätzen gilt, im Schanigarten, könnte einem über dem Eingang zum Haus Nummer eins eine Gedenktafel auffallen: Die Tafel erinnert an den Schriftsteller Egon Caesar Conte Corti, der hier ab 1933 bis in sein Todesjahr 1953 wohnte. Will man sich, im Gastgarten sitzend, über den Verfasser biographisch-historischer Romane informieren, wird man wohl am Smartphone die Online-Enzyklopädie konsultieren. Fokussiert man auf Cortis Karriere 1938–1945, ist bei Wikipedia immerhin zu erfahren, dass er sich zum „Anschluss“ am berüchtigten „Bekenntnisbuch österreichischer Dichter“ beteiligt und einen Antrag auf Mitgliedschaft bei der NSDAP gestellt habe, der aber wegen seiner Ehe mit einer Jüdin abgelehnt worden sei.

Für Auskünfte zu den Karrieren österreichischer Schriftsteller in der Zeit nach dem „Anschluss“ liegt nun der vierte Band des von der Grazer Forschungsstelle für österreichische Literatur im Nationalsozialismus herausgegebenen Handbuchs zur österreichischen Literatur 1938–1945 vor, der sich dem Bundesland Wien widmet. Man wird im Gastgarten nicht die knapp tausendseitige analoge Buchversion dieses für die österreichische Literaturgeschichte unabdinglichen Standardwerks dabei haben, aber ein PDF ist open access im Netz zugänglich. Und dort erfährt man nun über Corti, dass „die vorhandenen Unterlagen“ den katholischen Adeligen „als NS-Sympathisanten“ auswiesen. Seine Anträge auf Parteimitgliedschaft sowie auf Reaktivierung als Wehrmachtsoffizier seien wegen seiner Ehe mit einem „jüdischen Mischling 2. Grades“ abgelehnt worden.

Es macht eine der wichtigsten Qualitäten des Handbuchs aus, dass auch Quellen zur Einkommenssituation der Schreibenden unter dem Hakenkreuz ausgewertet wurden. So erfährt man, dass Corti zwar nicht öffentlich vorgetragen, aber am Buchmarkt große Erfolge gefeiert habe. Sein Sisi-Roman etwa habe im „Dritten Reich“ 20 Auflagen erreicht, seine schriftstellerischen Einkünfte betrugen 1942 rund 66.000 Reichsmark (im Vergleich dazu verdiente ein Universitätsprofessor laut Hochschullehrer-Besoldungsgesetz 1939 rund 11.000 Reichsmark jährlich). Karin Gradwohl-Schlacher, der Autorin des Handbuchs, ist es in ihren Ausführungen zur Vita der Autoren stets wichtig, kurz auch auf die Karrieren nach 1945 einzugehen. Corti etwa habe weiterhin populärwissenschaftliche Bücher über die k.u.k.-Vergangenheit verfasst.

Schon ein erster Blick auf die behandelten Personen im Handbuch macht klar, dass hier nicht nach Prominenz oder literarischem Kanon vorgegangen wurde, ein Gutteil der Namen wird auch dem Insider unbekannt sein. Das Handbuch versuche, so Gradwohl-Schlacher, „ohne einschränkenden, wertenden Rückgriff auf Kanonbildungen“ ein „funktionales Literaturverständnis“ umzusetzen und dabei die „wesentlichen Faktoren des literarischen Kommunikationssystems“ der „Ostmark“ (Autoren, Werke, Distributionsinstitutionen, Kulturpolitik, literarische Vereinigungen) vernetzt darzulegen. Noch sind diese Informationen auf Personen und Werke fokussiert, Band 7 wird sich laut dem in der Einleitung vorgestellten Editionsplan den Institutionen widmen. Man findet hier also Prominente wie Baldur von Schirach, dessen Name als „Reichsstatthalter“ der „Ostmark“, nicht aber als eifriger Verseschmied bekannt ist, oder Doderer, dessen Verstrickungen und Manöver während des „Dritten Reichs“ gut aufgearbeitet, im Handbuch nun kompakt greifbar sind (bis hin zur NSDAP-Mitgliednummer); daneben stehen der Unterwasser-Filmer Hans Hass mit seinen Sachbüchern und viele, viele heute völlig zu Recht Vergessene, die die NS-Diktatur mit ihrem Bedarf an ideologischer Erbauung und leichter Kost und Ablenkung nach oben spülte. Das Handbuch repräsentiert das offizielle literarische System, und die Autorin bekennt sich offen zu den Grenzen dieses Zugangs: Das Exil und die Innere Emigration könnten mit diesem Zugang nicht abgebildet werden, ebensowenig die „Spaltung von öffentlichem und privatem Verhalten“, das der Totalitarismus bedinge.

Es ist beklemmend zu lesen, welchen Dammbruch die Tage des „Anschlusses“ darstellten, wie blitzartig sich die Literaturfunktionäre in Position brachten: „Während der Verbotszeit wurde der Umbruch auf kulturpolitischem Gebiete systematisch vorbereitet, so dass im Augenblick der Machtergreifung in Österreich binnen 24 Stunden sämtliche kulturpolitischen Positionen besetzt werden konnten“. Besonders im Lebenslauf von Hermann Stuppäck ist diese Geschwindigkeit des Machtzugriffs im März 1938 ersichtlich; aber etwa auch Max Stebich, ab April 1938 kommissarischer Leiter der Wiener Geschäftsstelle der Reichsschrifttumskammer (RSK), tat sich hervor: Im Juli 1938 schickte er bereits knapp 2000 Aufnahmeanträge nach Berlin, „was dort zu erheblichen administrativen Problemen“ geführt habe. Andere waren nun als Schriftsteller erfolgreich, sie konnten den Platz der Vertriebenen und Inhaftierten einnehmen. Hermann Graedener etwa erntete bereits im April 1938 die Früchte seines jahrelangen Engagements für die deutsche Sache: Adolf Hitler verlieh ihm anlässlich seines 60. Geburtstags die Goethe-Medaille, danach bekam er einen monatlichen „Ehrensold“ aus den „Verfügungsmitteln des Führers“, 1939 wurde am Burgtheater ein Stück von ihm aufgeführt.

Die Bandbreite offizieller literarischer Betätigung in einer Diktatur ist nicht groß, im „Dritten Reich“ erfolgte die Kontrolle der Regimetreue über die zur Berufsausübung unabdingbaren Mitgliedschaft in der RSK. Für Schriftsteller, denen die Mitgliedschaft verweigert wurde, blieb der Versuch, zu Sondergenehmigungen zu kommen. Zwei Beispiele dafür sind die ehemaligen Sozialdemokraten Rudolf Brunngraber und August Zeiz. Brunngraber, dessen Frau ein „Mischling 1. Grades“ war, wurde 1940 aus der RSK ausgeschlossen, erhielt aber 1941 eine „Sondergenehmigung zur weiteren Berufsausübung“ – seine Bücher waren große Erfolge. Der Roman „Opiumkrieg“ (1939) etwa wurde wegen seiner antibritischen Propaganda auch von Goebbels geschätzt. Wie bei Doderer sind bei Brunngraber (durch Ursula Schneiders Arbeit) die Fakten bekannt, die Leistung des Handbuchs ist die Kompilation der Forschungsarbeiten und die Kombination mit Daten aus den staatlichen Archiven.

Auch der Sozialdemokrat August Zeiz war ein Protegé Goebbels’, seine Ehe mit einer Jüdin war ab 1935 eine „privilegierte Mischehe“. Zeiz schrieb wie Brunngraber mit Sondergenehmigung erfolgreiche Literatur, er betrieb, so Gradwohl-Schlacher, allerdings „ein lebensgefährliches Doppelspiel: Nach außen hin ein erfolgreicher Schriftsteller, kämpfte er im Untergrund gegen die Hitler-Diktatur. Mit den Tantiemen aus seinen Bühnenstücken finanzierte er vermutlich nicht nur den Lebensunterhalt seiner Familie, sondern auch die Flucht jüdischer Personen in das sichere Ausland.“ 1943 wurde er verhaftet, seine Frau in Auschwitz ermordet. 1944 wurde er aus dem KZ Dachau entlassen und schloss sich der Widerstandsgruppe „O5“ an. Auch in diesem Fall verweist die Autorin auf die Entwicklung nach 1945: Zeiz konnte den Bühnenverlag Marton, den er bis 1938 geleitet hatte, mit seinem Sohn Thomas Sessler wieder aufbauen. Seine Bemühungen um eine offizielle Anerkennung der Widerstandskämpfer blieben allerdings zu seinen Lebzeiten, Zeiz starb 1964, vergeblich.

Uwe Baur, Karin Gradwohl-Schlacher Literatur in Österreich 1938-1945
Handbuch eines literarischen Systems.
Band 4: Wien.
Wien u.a.: Böhlau, 2018.
966 S.; geb.
ISBN 978-3-205-20492-3.

Rezension vom 25.03.2019

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

Informiert
bleiben

Sie können 3 Newsletter abonnieren:

  • Literaturhaus Wien News
  • Literaturhaus Wien Veranstaltungsprogramm
  • Österreichische Exilbibliothek News

Bitte schicken Sie uns eine entsprechende Nachricht mit dem Betreff „Newsletter bestellen“. Für Abbestellungen bitte im Betreff „Newsletter abbestellen“ schreiben.