Zwischen 1942 und 1945 pulsierten in Deutschland Flüchtlingsströme zwischen Stadt und Land, in den zerstörten Metropolen lebten Menschen jahrelang in Erdhöhlen oder notdürftigen Verschlägen; die bleichen Gestalten (die von Augenzeugen eher als Fische denn als Menschen beschrieben wurden) teilten ihr Quartier mit Ratten und Insekten, die in unvorstellbarer Menge vorhanden waren. Ein Journalist namens Stig Dagermann, der im Herbst 1946 mit der Bahn bei normaler Geschwindigkeit durch die Hamburger Außenbezirke fuhr, berichtete, daß er eine Viertelstunde lang nichts anderes als ein einziges Ruinenfeld sah. Der Zug, in dem er sich befand, sei voll gewesen; kein einziger Fahrgast habe auch nur einen Blick nach außen getan.
W. G. Sebald macht diesen unterlassenen Blick den bundesdeutschen Schriftstellern kollektiv zum Vorwurf. Die Literatur des Landes hätte vor dem Luftkrieg versagt, weil sie dessen Grauen nicht ansatzweise zu beschreiben verstand bzw. eine solche Beschreibung erst gar nicht versuchte. Wie die Menschen in dem Hamburger Zug hätten die bundesdeutschen Autoren (aus Scham vor sich selbst und aus Stolz vor den Siegern) die Wirklichkeit einfach nicht zur Kenntnis genommen. Eine ganze Generation erwies sich als unfähig, die Geschehnisse aufzuzeichnen und ins Gedächtnis der Nation zu bringen.
Für seine These führt Sebald jede Menge Material an – und das heißt in diesem Fall: er bemüht sich um den Negativbefund. Die wenigen Bücher, die man zum Thema Luftkrieg unmittelbar nach 1945 geschrieben hat, wurden von der Öffentlichkeit entweder nicht zur Kenntnis genommen oder erst viel später publiziert: Heinrich Bölls noch aus den vierziger Jahren stammender Roman „Der Engel schwieg“ beispielsweise erst 1992; Alexander Kluges „Der Luftangriff auf Halberstadt am 8. April 1945“ wurde erst um 1970 geschrieben.
Eine Reihe anderer literarischer Zeugnisse (von Arno Schmidt über Hermann Kasack bis Peter de Mendelssohn) passen Sebald aus unterschiedlichen formalen Gründen nicht ins Konzept, von der Verarbeitung des Luftkrieges in der Literatur erwartet er sich neben der Eilfertigkeit einen handfesten Realismus. Die Herstellung ästhetischer oder „pseudoästhetischer Effekte aus den Trümmern einer vernichteten Welt“ hält Sebald für ein Verfahren, mit dem sich die Literatur selbst „die Berechtigung entzieht“.
Wer (aus ästhetischen und moralischen) Gründen an der Literatur des 20. Jahrhunderts derartig viel wegstreicht, darf sich nicht wundern, wenn kaum etwas übrig bleibt. Sebald muß sich solcherart (was aber seiner These nur zupaß kommt) mit einigen wenigen idealtypischen Texten begnügen; beispielsweise mit Hans Erich Nossacks semidokumentarischer Erzählung „Der Untergang“. Eine Nachfolge hat dieses Buch in gewisser Weise mit Hubert Fichtes Roman „Detlevs Imitationen ‚Grünspan'“ (erschienen Anfang der 70er Jahre) gefunden. 1968, gerade als sich der große Angriff auf Hamburg das 25. Mal jährt, stößt Fichtes Titelheld Jäcki auf ein Buch mit dem spröden Titel: „Ergebnisse pathologisch-anatomischer Untersuchungen anläßlich der Angriffe auf Hamburg in den Jahren 1943-45“. Dreißig Abbildungen und elf Tafeln zeigen das ganze Ausmaß der Katastrophe; an der Autopsie einer Schrumpfleiche wiederholt sich im Medizinischen, was die Gewalt des Krieges dem Körper angetan hat. Genauer und eindrucksvoller könnte man die Realität des Krieges kaum schildern, und so untergräbt Sebald – wo er sich auf eine solch detaillierte Analyse einläßt – seine eigenen Behauptungen.
Nachdem Sebald seine Thesen im Zuge einer Vorlesungsreihe an der Universität Zürich vor zwei Jahren erstmals vorgestellt hatte, entfachten sie einen Proteststurm bei Teilen der linken und Applaus von der falschen, nämlich der rechten und rechtsradikalen Szene. Dabei hätte man das Thema auch behandeln können, ohne eine solche Polemik zu provozieren, steht doch außer Frage, daß Sebald mit seinem Befund grundsätzlich recht hat. Die Ignoranz der Deutschen hinsichtlich ihres Luftkrieges erfährt hier aber eine fast schon groteske Überzeichnung, zudem bleibt sich der Autor über die Partikularität seiner These im Unklaren.
Die notwendigen Ausweitungen hat man nunmehr auch in der Buchveröffentlichung versäumt. Anstatt der Frage nachzugehen, wie denn überhaupt Krieg und Zerstörung in Literatur umzusetzen ist (was den ästhetischen Horizont des Essays hätte erweitern können); und anstatt der „Beschreibungsimpotenz“ (Peter Handke) der deutschen Literatur auch an anderer Stelle (etwa an den Vernichtungsaktionen der deutschen Weltkriegsarmeen) nachzuspüren, hat Sebald zur Aufstockung der Seitenzahl einen bequemeren Weg beschritten. Der Vorlesungsreihe über Luftkrieg und Literatur wurde einfach ein Essay über den Schweizer Schriftsteller Alfred Andersch beigepackt. Aus diesem erfährt man sehr viel über die anmaßende Eitelkeit des Schweizer Autors, zur Differenzierung des Themas trägt die Arbeit aber rein gar nichts bei.