Der Zeichnerin Nicole Streitler begegnet man genauso in ihren Texten: Im Abschnitt „Körperwelten“ beispielsweise zieht die Autorin Körper-Oberflächen und Körper-Landschaften sprachlich nach. Es sind Oberflächen von Körpern, die durch Hautunreinheiten wie z.B. Cellulite gekennzeichnet sind, durch „Signale eines / Inneren / das nach / außen / drängt“ („Oberflächen“ S. 10). Die Gedichte vermessen Innen- und Außenräume und bewegen sie sich dabei immer wieder durch abstrakte Zwischenräume. Im Abschnitt „Zeitaufnahmen“ etwa spielt die Autorin mit Möglichkeiten den Raum „Zeit“ auszuloten. Dabei geht es ihr aber nicht nur um das Unfassbare, in „Zeitaufnahmen“ holt Streitler genauso die Gegenwart ins Gedicht: Die Globalisierung, der Stress, die Bewältigung des Alltags bleiben nicht ausgespart.
Der Band Mädchenmorgenblütenträume ist ein Gruß an Johann Wolfgang von Goethes „Prometheus“, in dem es heißt: „Wähntest du etwa, / Ich solle das Leben hassen, / In Wüsten fliehn, / weil nicht alle Knabenmorgen- / Blütenträume reiften?“. Ähnlich trotzig und kämpferisch wie Prometheus stellt sich Streitlers lyrisches Ich immer wieder dem Leben entgegen. Dennoch scheint es in dessen Innerem einen tiefen Wunsch zu geben, der sich durch alle Abschnitte des Gedichtbandes zieht: Der Wunsch nach Entgrenzung – „das Gefühl keine Körpergrenzen mehr zu haben“ (S. 9), der sich beispielsweise im titelgebenden Gedicht im Wunsch nach „Zeitstille“, nach dem Heraustreten aus der Zeit, wiederfindet; auf ähnliche Weise auch im Gedicht „Welt ohne Menschen“ (S. 21), in dem ein enttäuschtes Ich eigensinnig verlangt, sich abgrenzen zu wollen und nicht permanent auf seine Umgebung reagieren zu müssen. Es gibt in Nicole Streitlers Gedichten aber genauso eine rebellische Stimme, die aufbegehrt und dazu aufruft, sich der „oberflächlichen kapitalistischen Welt“ („die neuen Märtyrer“, S. 22) entgegenzustellen. Diese Stimme ist sich aber gleichzeitig schmerzlich bewusst, dass jene jugendlichen, idealistischen „Mädchenmorgenblütenträume“ wohl ausgeträumt sind.
Das erwachsene Ich im Abschnitt „Liebesbilder“ erfährt die Liebe als vergängliches Aufflackern („Regenliebe“, S. 42), als Desillusion oder als Kalkül. Im letzten Gedicht des Bandes steht ein (Sprach)spiel, das sich als Warnung sowohl auf das jugendliche, als auch in Form einer Erkenntnis auf das erwachsene Ich beziehen könnte: „don’t play with love / with love / with love“.
Nicole Streitler gelingen mit ihrer klaren Sprache Gedichte, die mitunter amüsant von der Bewältigung des alltäglichen Lebens erzählen, einem aber andererseits auf beklemmende Weise bewusst machen, dass jede Zeit im Leben ihr Ablaufdatum hat. Die Autorin beherrscht es dabei durchaus, die Lesenden in ihre Bilder (besonders geglückt die Naturbilder, z. B. in „Emma“ S. 34) hineinzuziehen, obwohl man nicht umhin kommt, sich ab und zu eine gewisse Irritation in den Gedichten zu wünschen, die einen dazu veranlassen würde, an den Wörtern, ihren Bedeutungen oder an der Form der Gedichte hängenzubleiben und ihnen etwas länger nachzuspüren.