#Roman

Magdalenaberg

Reinhard Kaiser-Mühlecker

// Rezension von Michaela Schmitz

… oder von einem, der stehenbleibt, um vorwärtszukommen.

Vielleicht sind nicht wir es, die wir uns durch die Zeit bewegen, sondern es ist die Gegenwart, die an uns vorbeizieht und schneller zu Vergangenheit wird, als ein Wassertropfen zu Boden fallen kann.

Mit geschlossenen Augen hört Joseph auf das Fallen des Tropfens aus dem Schlauchstutzen neben dem Grab seines Bruders Wilhelm. Das Spiel, genau in dem Moment aufzusehen, in dem der Tropfen zu Boden fällt, gelingt irgendwann. Wie aus der Zeit gefallen ist der Friedhof auf dem Magdalenaberg, unweit des elterlichen Hofs in Pettenberg. Der Wallfahrtsort ist Josephs erster Berg, eigentlich nur ein Hügel. Schon als Kind liebt er es, mit nackten Füßen die Friedhofsmauer reibend, dort oben zu sitzen und in die Ebene hinaus zu blicken. Unvergesslich für ihn bis heute: das Gefühl der Mauer auf der Haut, das Schauen und „Einswerden mit etwas, das nicht nur ich war“. Kaum eine Erinnerung dagegen an seinen Bruder, der jetzt hier begraben liegt.

Ein Jahr ist seit Wilhelms Unfalltod vergangen, als Joseph in der Anfangssequenz des Romans auf dem Friedhof hört, wie hinter ihm das – seit er denken kann offene – gusseiserne Tor geschlossen wird. Drei Jahre ist das Begräbnis her, als man Joseph in der Schlusssequenz des Romans von außen durch das geschlossene schwarze Tor eintreten sieht, das seit jeher offengestanden hat, wie er erneut betont. Es ist, als sei die Zeit eingefroren und als hätte die Person Josephs sich verdoppelt. Veränderung im Stillstand also?

Tatsächlich ist die erzählte Zeit für Joseph von außen betrachtet eine Zeit absoluten Stillstands. In seinem Hallstätter Haus will er mit einer Arbeit über den Beruf des Instrumentenbauers sein Geschichtsstudium abschließen. Aber das Quartheft liegt zwei Jahre lang unbeschrieben auf dem Tisch, während Joseph die meiste Zeit über aus dem Fenster schaut und nachdenkt oder in den leeren Seiten blättert. Nur selten kommt Thomas zu Besuch. Der Schulfreund stellt ihm eines Tages Katharina vor. Sie kommt wieder und bleibt. Zwei Jahre lang sind sie zusammen, bis sie ihm erzählt: Thomas und sie waren schon ein Paar, bevor sie sich kennenlernten. Sie fährt fort und kehrt nicht mehr zurück. Katharina ist es auch, die ihm die „Gretchenfrage“ stellt: warum er nur herumhocke, nichts hineinschreibe in sein Heft und seinen Bruder einfach verschwinden lasse? Joseph schweigt, lässt sie gehen und denkt darüber nach, was er ihr hätte sagen wollen:

Dass er ministrieren gegangen sei wie alle Jungen im Dorf. Wilhelm dagegen habe nie dazugehören wollen. Sein Bruder sei nicht wie er mit den anderen Ministranten auf dem Fahrrad zur Frühmesse gefahren – bis zu jenem Tag der Demütigung durch „den Langen“ im Maisfeld. Dass er sich im Gegensatz zu seinem Bruder seit jeher herausgesehnt habe aus Pettenbach. Dass Wilhelm dort ausgeharrt habe, bis er für immer weggegangen sei, um dann nie mehr zurückzukehren. Er selbst aber sei immer wieder nach Pettenbach gekommen. Manchmal scheine ihm sogar, er sei nie weggewesen – vom Hof, vom Magdalenaberg, dem Wald und dem Fluss, der für ihn wahr und ewig gewesen sei und ihn durch seine ganze Jugend getragen habe. Dass ihm sei, als habe Wilhelm in einer anderen Zeit gelebt. Nicht von dieser Welt wie Wilhelms Wohnung über den Dächern von Wien, in der etwas Weißes in ihn geströmt sei, als er ihn dort zur gemeinsamen Reise in die „weiße Stadt“ Reggio di Calabria abgeholt habe. Eine Reise, die in Wirklichkeit nie stattgefunden hat. Eines Tages habe Wilhelm schließlich beschlossen, es sei besser zu schweigen, „als probte er für eine kleine Zeit die viel größere stumme Zeit im Irgendwann“, als sei er einverstanden mit seinem Tod.

Im Rückblick erscheint Joseph der Dialog mit dem Bruder wie ein Selbstgespräch und Wilhelms Tod greift nur seinem eigenen Ende vor. „Zehn Jahre, und nichts, nichts, nichts bleibt“, hämmert es ihm im Kopf. Und jetzt? fragt Joseph auch Katharina am Schluss ihrer Beziehung. Nichts komme jetzt, antwortet sie. „Wenn etwas aus ist, kommt nichts mehr.“ Das, entgegnet Joseph, könne er sich aber nicht vorstellen. Also kehrt er wieder einmal zurück nach Pettenberg, wo es ist, wie es immer gewesen war; auf den Magdalenaberg, wo die Zeit stehengeblieben zu sein scheint.Und doch: es ist, als habe sich etwas verwandelt, als habe sich sein Leben verdoppelt in der Einsicht, dass nicht wir es sind, die sich durch die Zeit bewegen, sondern dass das Leben sich durch uns hindurchbewegt.

Magdalenaberg von Reinhard Kaiser-Mühlecker ist ein beeindruckender Entwicklungsroman über einen, der stehenbleibt, um vorwärtszukommen. Mit ausharrendem Nachdenken will Joseph etwas erfahren über das, was verloren geht, und das, was bleibt. Das Besondere an Kaiser-Mühleckers Geschichte ist das unzeitgemäße Zeitmaß seines Erzählens, die osmotische Vertrautheit des Erzählers mit Natur und Landschaft und seine eremitenhafte Absonderung allen Menschen gegenüber. Kaiser-Mühleckers Erzählen ist ein fast behäbiges Reden, das auf einer Langsamkeit beharrt, die herausfordert. In seinem Roman durchbricht Schweigen das Reden, wird Gedankenleere zum Bestandteil des inneren Monologs und Vorwärtsgehen zu Bewegung im Stillstand. Jeder Satz weist über sich selbst hinaus. Das macht Magdalenaberg zu einem besonderen Buch.

Reinhard Kaiser-Mühlecker Magdalenaberg
Roman.
Hamburg: Hoffmann und Campe, 2009.
224 S.; geb.
ISBN 978-3-455-40192-9.

Rezension vom 21.09.2009

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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