#Sachbuch

manisch-depressiv

Leo Navratil

// Rezension von Alfred Pfabigan

Lange Zeit hat sich Leo Navratil, der langjährige Leiter des „Hauses der Künstler“ in der psychiatrischen Klinik Gugging, und damit künstlerischer und ärztlicher Mentor von Ernst Herbeck („Alexander“), Johann Hauser, Oswald Tschirtner, August Walla und vielen anderen in seiner theoretischen Arbeit überwiegend mit dem Zusammenhang zwischen Schizophrenie und Kunst beschäftigt. Die Quintessenz von Büchern wie Schizophrenie und Kunst (1965) und Schizophrenie und Sprache (1966/1986) wurde einmal im Titel eines Aufsatzes in den Protokollen angesprochen: „Schizophrene sind Künstler“.

Doch schon eine Monographie über Johann Hauser aus dem Jahre 1978, Kunst aus Manie und Depression, wies auf die überragende Bedeutung zyklothymer Abläufe nicht nur für die Gugginger Künstler hin. Navratils neues Buch relativiert die vorherigen insofern, als nun davon ausgegangen wird, daß es nur wenige Berufskünstler gibt, die während einer längeren produktiven Phase schizophren erkrankt waren, während viele Künster manisch-depressiv sind. Die affektiven Schwankungen im Sinne des (von manchen Autoren als vernebelnd bestrittenen Begriffspaares „manisch-depressiv“) kommen bei allen Menschen vor, allerdings in „verdünnter“ Form. Das medizinische Interesse (und auch das der Interpreten von Kunstwerken) konzentriert sich meist auf die quälenden depressiven Zustände. Navratil hingegegen erklärt sich als „fasziniert“ von der manischen und hypomanischen Verfassung, die in seiner Darstellung zu einer wichtigen Quelle der „apollinischen Energie“ avanciert.

Ein einprägsames Beispiel zum Verhältnis von Produktivität und manisch-depressiven Zuständen bietet etwa Robert Burton, der klassische Autor der einflußreichen Anatomie der Melancholie. Burton hätte die Melancholie zwar in ihrer ganzen Schwere erlebt, hätte aber erst in der ihr folgenden manischen oder hypomanischen Hochstimmung die Fähigkeit gehabt, sie zu beschreiben. Auf eine einfache Formel gebracht, hat hier das Depressive den Inhalt gegeben und das Manische den Antrieb. Das gibt der inflationären Literatur etwa zu Burton eine neue Richtung: interessant sind nicht die quälenden, aber sterilen Zustände, die dieser beschreibt, sondern die Energie, die ihn zur Beschreibung befähigt hat und deren Spuren der Text ja auch trägt.

Navratils Buch ist eine Mischung aus einer medizingeschichtlichen und theoretischen Abhandlung aus dem Gebiet der Psychiatrie, aus einer Sammlung von pathographischen Miniaturen und Versuchen, im Werk von Künstlern die maniforme Konstellation aufzuspüren. Unter den Fallbeispielen findet sich, neben zwei Arbeiten über Ernst Jandl und die von ihm exemplarisch vor-gelebte und vorgedichtete „Verdünnung“ des Manisch-Depressiven, Dichter und Schriftsteller (Grillparzer, Justinus Kerner, Lichtenberg, Conrad Ferdinand Meyer, Novalis, Rabelais), Maler (Dürer, Goya, Hauser), Musiker (Mozart) und der Religionsstifter Martin Luther. Manche Skizzen – etwa die über Luther – sind derart fragmentarisch, daß sie nicht mehr als einen Hinweis darstellen, bedauerlich ist, daß die herangezogene biographische und Sekundärliteratur recht eng ausgewählt ist, aber in summa bietet uns das Buch mit seiner Konzentration auf die Zeichen des Manischen ein ausbaufähiges Deutungsmuster kultureller Phänomene an.

Leo Navratil manisch-depressiv. Zur Psychodynamik des Künstlers.
Wien: Christian Brandstätter, 1999.
312 Seiten, gebunden.
ISBN 3-85498-006-X.

Rezension vom 20.09.1999

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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